Nordkosovo: Die Furcht nach dem Blutvergießen
28. September 2023Zwei Tage nach dem Blutvergießen ist das sonnige Spätsommerwetter verschwunden. Der Himmel über Nord-Mitrovica ist grau, die Berge sind wolkenverhangen, Nieselregen macht die Straßen rutschig.
Das Wetter passt zur Stimmung des großgewachsenen 24-jährigen Kosovo-Serben, der gerade zur Arbeit eilt. "Ich habe immer noch Bauchschmerzen, seit zwei Tagen schon", sagt er, "und sie werden schlimmer, wenn ich an das Blutvergießen denke." Er möchte seinen Namen nicht nennen, nicht sagen, wo er arbeitet, nichts preisgeben, was ihn identifizieren könnte. Er klingt bedrückt und angsterfüllt.
Im Norden der kosovarischen Stadt Mitrovica. Hier leben fast ausschließlich Serben, so wie im gesamten Nordteil Kosovos. Die Fassaden der Häuser sind fast durchgehend grau. Überall wehen die rot-blau-weißen serbischen Fahnen, auf einem Graffiti an einer Hauswand steht, dass Kosovo zu Serbien und die Krim zu Russland gehöre. Händler an Ständen verkaufen Obst, Gemüse und chinesische Billigware, von Kleidung bis zu Elektronik, an den Straßenrändern stehen allenthalben kaputte Autos, die schon seit Jahren niemand wegräumt.
Granatwerfer, Panzerfäuste, Sturmgewehre
Nur wenige Kilometer von hier kam es in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag (24.09.2023) zum schwersten gewalttätigen Zwischenfall, seit Kosovo 2008 seine Unabhängigkeit ausrief. Als kosovarische Polizisten eine Straßensperre zweier Lastkraftwagen ohne Nummernschilder in Augenschein nahmen, wurden sie aus einem Hinterhalt beschossen, ein Beamter wurde tödlich verletzt.
Als Verstärkung anrückte, besetzte die Gruppe der etwa 30 schwerbewaffneten Angreifer das nahegelegene Kloster Banjska und verschanzte sich dort. Bei einem Gefecht mit kosovarischen Sicherheitskräften wurden drei von ihnen getötet, die anderen konnten flüchten. Anschließend stellten Polizisten Granatwerfer, Panzerfäuste, Sturmgewehre und Handgranaten, ein Panzerfahrzeug und einen Jeep sicher.
Wahlboykott und Straßenblockaden
Seit der Unabhängigkeitserklärung Kosovos von Serbien im Februar 2008 gab es viele, oft gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen christlich-orthodoxen Serben und muslimischen Albanern. Die Schutztruppe Kosovo Force (KFOR), die seit Ende des Kosovo-Kriegs 1999 im Land stationiert ist, musste oft dazwischen gehen, etwa um die orthodoxen Klöster der Serben zu schützen. Einen paramilitärisch-terroristischen Angriff einer derart schwerbewaffneten Gruppe gab es jedoch nicht - im Gegenteil, im vergangenen Jahrzehnt schien langsam Ruhe einzukehren zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern.
Doch seit gut einem Jahr eskaliert die Situation wieder. Am Anfang stand im Sommer 2022 ein Streit um serbische Autokennzeichen in Kosovo. Der spitzte sich soweit zu, dass die kosovo-serbischen Minister die kosovarische Regierung verließen, die politischen Vertreter der serbischen Minderheit sich aus sämtlichen Staatsinstitutionen Kosovos zurückzogen und sämtliche Bürgermeister mehrheitlich serbischer Gemeinden zurücktraten. Als die kosovarische Regierung eine Lokalwahl abhielt, rief die Srpska Lista, die einzige Partei der serbischen Minderheit in Kosovo, einen Wahlboykott aus, organisierte Straßenblockaden und bedrohte Wähler wie Kandidaten.
Erst Gerüchte, dann Realität
Zvecan, eine Gemeinde nördlich von Mitrovica, zu der auch das Dorf und das Kloster Banjska gehören. Mitten auf der Hauptstraße steht ein riesiges christliches Kreuz, der waagerechte Querbalken hoch genug, dass Lastkraftwagen unter ihm durchfahren können. Von der Hauptstraße aus sind die verwaisten Anlagen eines Metallurgie-Werks mit einem riesigen Schornstein zu sehen.
Viele Menschen hier wirken verunsichert und fragen sich offenbar, ob der Zwischenfall vom Wochenende der Beginn schlimmerer Auseinandersetzungen zwischen muslimischen Albanern und christlich-orthodoxen Serben ist oder ob dies gar der Beginn eines neuen Krieges ist. Sami Kurti, ein Arzt, der hier in der Gegend mehrere Gemeinden betreut, sagt: "Wir, die Menschen hier, sind sehr besorgt. Es gab Gerüchte und Warnungen, dass aus Serbien bewaffnete serbische Gruppen kommen und etwas von größerem Ausmaß planen würden. Leider waren es nicht nur Gerüchte, sondern es ist nun Realität."
Tatsächlich sieht es in den Tagen nach dem Zwischenfall auf der ganzen Strecke von Mitrovica in Richtung des Klosters Banjska furchterregend aus. Polizisten und schwerbewaffnete Soldaten patrouillieren, Militärjeeps und gepanzerte Wagen fahren hin und her, an Checkpoints werden Menschen kontrolliert.
Angst, offen zu sprechen
Der Bürgermeister von Zvecan, Illir Peci, versucht zu beschwichtigen. "Es stimmt, die Menschen haben große Angst", sagt er, "aber die Polizei hat nach dem Zwischenfall alles unter Kontrolle gebracht." Peci ist einer der albanischen Bürgermeister im Norden Kosovos, die nach dem Rücktritt der serbischen Kollegen und dem Wahlboykott mit nur drei bis vier Prozent der Stimmen gewählt wurden. Er ist sichtlich bemüht, nichts Konfrontatives oder auch nur Konkretes zu sagen.
Viele Menschen in der Gegend möchten gar nicht sprechen. Es liegt wohl auch an den Verhältnissen in Nordkosovo. Die Gegend wird dominiert von der Srpska Lista, einer Partei, die ganz offensichtlich aus Belgrad gesteuert wird. Ihr Anführer, der Unternehmer Milan Radojicic, ist der starke Mann in Nordkosovo. Ihm werden zahlreiche kriminelle Aktivitäten, unter anderem im Drogenhandel, nachgesagt. Er pflegt ein enges Verhältnis zum serbischen Staatspräsidenten Aleksandar Vucic.
Mord an Andersdenkenden
Aktivisten und Politiker, die um Kooperation mit den kosovarischen Behörden bemüht sind, werden unter Druck gesetzt. Oder schlimmer: ermordet. So wie im Januar 2018 Oliver Ivanovic, der Vorsitzende der Bürgerinitiative "Serbien, Demokratie, Recht" (SDP), der dafür plädierte, dass Kosovo-Serben sich in den kosovarischen Staat integrieren.
Der Mord an ihm ist bis heute nicht aufgeklärt. Radojicic gilt als einer der Drahtzieher. Und Radojicic ist es wohl auch, der hinter dem jetzigen bewaffneten Zwischenfall steckt. Das zumindest legt ein Drohnenvideo nah, welches das kosovarische Innenministerium in dieser Woche veröffentlichte. Es zeigt Radojicic am Sonntag im Hof eines Anwesens nördlich der Stadt Mitrovica, umgeben von schwerbewaffneten Männern, er selbst trägt ein automatisches Gewehr und telefoniert gerade. Das Video wurde kurz vor der Flucht der Männer nach Serbien aufgenommen.
Kein Wunder, dass angesichts solcher Verhältnisse viele Menschen im Norden Kosovos nicht öffentlich sprechen wollen. So wie auch der 24-jährige Kosovo-Serbe, der in Nord-Mitrovica gerade zur Arbeit geht. Er sagt, dass es auf der zwischenmenschlichen Ebene in den vergangenen Jahren eigentlich gut funktioniert habe. "Kleine Gruppen von Leuten trafen sich, sprachen miteinander, wir haben sogar Bruderschaft miteinander getrunken", erzählt er. "Aber jetzt weiß ich nicht, wie es weitergehen soll."