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Politik

Nach Misshandlungen auf ihr Gesicht uriniert

Nadine Mena Michollek | Arber Bajrami
3. April 2022

Die Täter misshandelten Mirsa J. und urinierten auf ihr Gesicht - vor den Augen ihrer zwei Kinder. Die Familie floh aus Nordmazedonien nach Deutschland: Doch hier droht ihr die Abschiebung.

 Roma Flüchtlinge in Deutschland
Mirsa J. spielt mit ihren KindernBild: Arber Bajrami/DW

"Meine Kinder sollen glücklich werden"

03:05

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Er hat seine Ellenbogen auf den Tisch gestützt und verbirgt sein Gesicht in den Händen. Er weint. Immer wieder zieht er die Brille ab, drückt seine Hände gegen die Stirn, als hätte er einen stechenden Kopfschmerz. Selim J. ist müde und verzweifelt. Seit Wochen haben er und seine Ehefrau Mirsa nicht mehr richtig geschlafen. Zu groß ist die Angst, dass die Polizei nachts kommt, um sie abzuschieben

Erst vor drei Tagen hörte die Familie, es gebe einen Abschiebeflug nach Nordmazedonien. Sie bangten die ganze Nacht, denn dann finden die meisten Abschiebungen statt. Der 43-Jährige sagt, er wisse nicht mehr, was er tun solle. Selim ist zwar Mazedonier, aber seine Frau mazedonische Romni - und damit seien auch seine Kinder Roma. Deswegen drohten der Familie Diskriminierung und rassistische Angriffe in der Heimat.

Trauma, Angst, Depression 

Wir befinden uns im vorläufigen Zuhause der Familie am Rand von Braunschweig. Eine Flüchtlingsunterkunft. Wir sitzen in einem etwa dreizehn Quadratmeter großen Zimmer: Küche, Wohnzimmer und Spielzimmer in einem. Nicht wohnlich, einfach gehalten. Keine Fotos, keine persönlichen Gegenstände. Alles sieht nach Übergang aus. Wir sind vorsichtig, zurückhaltend. Mirsa wollte zuerst nicht mit uns reden. Sie sagte, sie schaffe es psychisch nicht, schäme sich, habe Angst vor den Tätern. Dann sagte sie doch zu. Die Bedingung: Keine Klarnamen (die Namen wurden geändert - Anm. d. Red.), keine Gesichter im Video. Aber vor Ort spricht zunächst nur ihr Mann mit uns. Es dauert mehrere Stunden, bis Mirsa uns vertraut. 

Die Autorin Nadine Michollek spricht mit Mirsa und Selim J.Bild: Arber Bajrami/DW

"Vor einigen Tagen hatte ich nicht einmal Kraft, zu kochen oder mich um meine Kinder zu kümmern. Mein Mann übernahm alle Aufgaben." Mirsa ist erst vor wenigen Wochen aus der Psychiatrie entlassen worden. Dort diagnostizierten die Ärzte eine schwere Depression und eine posttraumatische Belastungsstörung. 

Als Mirsa erzählt, was ihr angetan wurde, weint sie nicht, zeigt keine starken Emotionen. Ganz anders als ihr Ehemann. Mirsa wirkt traurig, aber auch resigniert, fast abwesend. Sie nimmt Medikamente gegen die Depression.

Die grausame Tat und ihre Folgen

Mirsa erzählt uns, wie die Täter in ihr Haus eindrangen. Ihr Ehemann war nicht zuhause. Die Täter schlugen sie zusammen, urinierten auf ihr Gesicht, versuchten, sie zu vergewaltigen. Alles vor den Augen ihrer vierjährigen Tochter Jasmina und ihres siebenjährigen Sohns Jonuz. Mirsas Schreie waren noch auf der Straße zu hören. Die Nachbarn kamen und verhinderten eine Vergewaltigung. 

Selim und Mirsa gingen zur Polizei. Sie kannten die Täter, sie waren aus ihrem Viertel. Sie hatten Mirsa schon öfter beschimpft, ihr "Tsigane" hinterhergerufen, das mazedonische Wort für die rassistische Bezeichnung "Zigeuner". Selim und Mirsa wollten Anzeige erstatten, doch die Polizei habe sich geweigert, diese anzunehmen. Anstatt ihnen zu helfen, habe die Polizei die Täter informiert.

Familie J. auf dem Weg in ihr vorläufiges Zuhause: Eine Flüchtlingsunterkunft in BraunschweigBild: Arber Bajrami/DW

Mirsa legt die Hände auf ihr Gesicht, atmet tief ein und lässt die Hände wieder fallen. Nach der Tat habe sie nicht mehr in ihrem Haus schlafen können. Die Familie ging zu Verwandten. Was Mirsa erst in Deutschland erfahren wird: Zehn Tage nach dem Angriff zündeten die Täter ihr Haus an. Es brannte bis auf die Grundmauern nieder.

Selim zeigt uns die Videos und Bilder von dem, was einmal ihr Haus war. Man erkennt kein Möbelstück mehr, kein Bild, keine Spielsachen: nur verrußte Mauern, zersprungene Fenster, eingefallene Decken. Selim ging erneut zur Polizei, doch nichts passierte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Mirsa schon drei Suizid-Versuche hinter sich. Selim wagte es nicht, ihr vom Brand zu erzählen. Er verkaufte das Letzte, was sie noch hatten - ihr Auto, ließ neue Ausweisdokumente ausstellen und floh mit der gesamten Familie nach Deutschland.

Wenig Chancen auf Asyl

Die jüngere Tochter Jasmina läuft durch den Wohnraum und klebt uns bunte Sticker auf Arme und Hände. Elefanten und Einhörner. Selim macht eine Kopfbewegung in Richtung Schlafkammer und sagt: "Seht ihr, er liegt immer nur da, spielt kaum. Die Kleine erinnert sich nicht so viel, aber mein Sohn hat immer noch viele Ängste." Der siebenjährige Jonuz liegt im Bett, schaut etwas auf dem Handy seiner Eltern. Das Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge Niedersachsen e.V. diagnostizierte auch bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung. Vater Selim leidet auch an einer schweren psychischen Belastung und Angstzuständen. 

Das Verwaltungsgericht Osnabrück, das über die Anträge der Familie entscheidet, sagt, der Zugang zu medizinischer Versorgung in Nordmazedonien sei unproblematisch. Mirsa weiß, dass es nicht so ist. "Mein ganzes Leben wurde ich als Mensch zweiter Klasse behandelt, weil ich Romni bin."

Mirsa kennt das schon seit ihrer Kindheit: Sie geht zum Arzt und wird nicht ernstgenommen oder erst gar nicht behandelt. Dass die Polizei bei Taten gegen Roma nicht reagiert, sei für sie auch nichts Neues. In der Schule wurden ihre Kinder als "Zigeuner" beschimpft, von Mitschülern geschlagen. Lehrkräfte griffen nicht ein. Die Roma-Bevölkerung habe kaum eine Chance, Arbeit zu finden, erzählt sie.

Auf der Wiese vor der Flüchtlingsunterkunft spielen die Eltern manchmal mit ihren KindernBild: Arber Bajrami/DW

Dennoch gilt Nordmazedonien als "sicherer Herkunftsstaat". Konkret heißt das: Die schwere Diskriminierung der Roma-Bevölkerung wird nicht anerkannt, Asylanträge werden in der Regel abgelehnt. Familie J. versucht trotzdem, die Diskriminierung zu beweisen. Doch die mazedonische Polizei habe nie Ermittlungen aufgenommen, daher gebe es kaum Beweise. Die Familie nannte die Täter namentlich, legte Fotos und Videos des verbrannten Hauses vor. Das Verwaltungsgericht Osnabrück entgegnete aber, bei den Aufnahmen lasse sich weder Zeit noch Ort bestimmen.

Kein Einzelfall

Der Verein "Roma Center Göttingen" und die politische Gruppe "No Lager" unterstützen die Familie. Sie legten Berichte über die Diskriminierung der Roma-Bevölkerung in Nordmazedonien vor. Dennoch urteilte das Gericht, dass selbst dann, wenn die Angriffe auf Mirsa der Wahrheit entsprechen würden, es sich nicht um strukturelle Verfolgung handele, sondern um kriminelles Unrecht. Dass die Polizei nicht reagiert habe, sei ein Einzelfall.

Die von der Bundesregierung eingesetzte Unabhängige Kommission Antiziganismus zeigt, dass Mirsas Erfahrungen keine Einzelfälle sind. Die Kommission hat die letzten zwei Jahre die Situation der Sinti- und Roma-Bevölkerung untersucht. In ihrem Bericht hält sie fest, dass Roma in den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens unter "massiven rassistischen Diskriminierungen und damit einhergehenden sozialen wie ökonomischen Ausgrenzungen" leiden.

Sie haben oft keinen Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Bildung, zum Wohnungsmarkt, zum Gesundheitswesen und zum Teil nicht einmal sauberes Trinkwasser. Die Staaten sind dabei oft Teil der strukturellen Diskriminierung und schützen die Roma-Bevölkerung nicht.

Mirsa schaut uns ernst an, sie sagt, zurückkehren sei keine Option, sie bringe sich um, wenn sie abgeschoben werden würde. In den Gerichtsunterlagen der Familie bescheinigt eine Psychiaterin, dass eine Abschiebung zu einem weiteren Suizid-Versuch führen könnte.  

Wir gehen raus, spazieren ein bisschen die Straße entlang, durch das Industriegebiet, in dem die Flüchtlingsunterkunft liegt. Mirsa zeigt auf eine Abzweigung. Nur zehn Minuten von hier gehe ihr Sohn zur Schule. Es ist das erste Mal an diesem Tag, dass wir Mirsa lächeln sehen. "Mein Sohn ist sehr glücklich hier in der Schule. Hier in Deutschland sind die Lehrerinnen sehr nett."

Vergangene Woche hatte ihr Sohn Geburtstag. Er habe ein Geschenk von der Schule bekommen, und die ganze Klasse habe ihm ein Ständchen gesungen. Für Kinder in Deutschland ein typischer Geburtstag in einer Schule. Für Mirsa und ihre Familie war es etwas Besonderes, denn in Schulen in Nordmazedonien wurden ihre Kinder ausgegrenzt. "Er war so glücklich an jenem Tag. Meine Kinder sollen glücklich werden, es soll ihnen gut gehen." 

Dieser Artikel wurde am 15.06. 2023 überarbeitet und durch die korrekte Herkunftsbezeichnung mazedonisch ergänzt. 

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