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Politik

Nordsyrien: "Es gab keine Waffenruhe"

31. Oktober 2019

Aus nächster Nähe hat der Arzt Michael Wilk in Nordsyrien den Angriff der Türkei auf die Kurdengebiete erlebt. Im DW-Gespräch berichtet er von Verletzten, Vertriebenen und großem Misstrauen, was die Zukunft angeht.

Syrien Tal Abyad Türkei Angriff Milizen
Bild: Reuters/K. Ashawi

DW: Sie haben in einem Krankenhaus in Tell Tamer in Nordsyrien Verwundete versorgt. Tell Tamer liegt nur wenige Kilometer südlich der von der Türkei beanspruchten sogenannten Sicherheitszone.  Dort haben Sie die 150-stündige Feuerpause und auch deren Ende miterlebt. Was haben Sie dort beobachtet?

Michael Wilk: Wo wir waren gab es de facto keine Waffenruhe. Mit unserem Krankenhaus lagen wir am Anfang etwa 20 Kilometer, am Ende weniger als zehn Kilometer entfernt von der jeweiligen Frontlinie. Die Front kam näher. Das heißt: Die türkischen Truppen und ihre dschihadistischen Hilfstruppen am Boden waren bemüht, ihr Gebiet weiter auszudehnen. Tell Tamer ist strategisch wichtig. Zur Zeit ist die Stadt wohl noch in Händen der kurdischen Selbstverteidigungseinheiten beziehungsweise der syrischen Einheiten, die da nachgezogen sind. Aber es gab keine Waffenruhe. Wir hatten die ganze Zeit über Schwerverletzte, Sterbende, auch Tote - sowohl unter den Selbstverteidigungskräften als auch unter der Zivilbevölkerung.

Michael Wilk engagiert sich seit Jahren für die Menschen in Nordsyrien wie hier in Tell TamerBild: M. Wilk

Am Dienstag gab es Berichte von der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London über Kämpfe zwischen türkisch gesteuerten Milizen und den syrischen Truppen - auch in Tell Tamer.

Das fing schon an, als wir noch da waren. Es rückten syrische Truppen, Truppen des Assad-Regimes, nach in die Region - entsprechend diesem über die Köpfe der betroffenen Bevölkerung hinweg geschlossenen Abkommen zwischen Russland und der Türkei. Der Bericht, dass türkische Invasionstruppen mit Assad-Regimetruppen aneinandergeraten sind, ist authentisch.

Am Boden scheinen ja auf türkischer Seite weniger reguläre Truppen unterwegs zu sein als vielmehr türkisch unterstützte Milizen. Wie würden sie die beschreiben?

Ich war in den letzten Jahren häufig zur Notfallversorgung in der Region und glaube in etwa zu verstehen, was da sich vollzieht. Die Türkei setzt am Boden vor allem dschihadistisch-islamistische Hilfstruppen ein. Die rekrutiert sie aus dem Gebiet Idlib. Das wird noch gegen das syrische Regime verteidigt und von der Türkei unterstützt. In Idlib haben sich vor allem dschihadistische Gruppen festgesetzt. Dort wurden Kommando-Einheiten rekrutiert, um diese Invasion durchzuführen. Wenn ich sage dschihadistische Truppen, dann meine ich Kämpfer der ehemaligen Al-Nusra-Front - das sind Al-Kaida-nahe Truppen. Es sind aber auch ehemalige IS-Kämpfer darunter. Die kann man durchaus auf Bildern identifizieren. Das sind Leute, die haben an anderen Orten für den IS gekämpft, haben sich dann über die Türkei oder direkt nach Idlib in Sicherheit gebracht. Und jetzt nehmen sie auf türkischer Seite an der Invasion gegen die kurdischen Gebiete teil.

Sie haben vor eineinhalb Jahren auch den türkischen Einmarsch in Afrin aus nächster Nähe beobachtet. Wiederholt sich in ihren Augen diese Geschichte?

Afrin wurde damals von türkischer Seite bombardiert und von islamistischen Hilfstruppen gestürmt. Die Selbstverteidigungseinheiten dort flohen und auch die Bevölkerung. Ich war in dem angrenzenden Gebiet Sheba und habe gesehen, wie die Leute dort hausten. Inzwischen weiß man, dass die Türkei dieses Gebiet quasi annektiert hat mit türkischen Poststellen, türkischer Polizei, türkischen Lehrbüchern und Schulen. Da kann man sich vorstellen, was im schlimmsten Fall in dem Gebiet passiert, das jetzt von der Türkei und ihren Hilfstruppen erobert wird: dieses rund 120 Kilometer breite Gebiet zwischen Tell Abyad und Ras Al-Ain, etwa 30 bis 35 Kilometer tief ins Land hineinreichend.

Türkisch unterstützte arabische Kämpfer plündern im März 2018 Geschäfte in AfrinBild: Getty Images/AFP/B. Kilic

Wir haben als Ergebnis dieser Invasion jetzt 200.000 bis 300.000 Flüchtlinge. Und das in einer Region, die vorher relativ ruhig war. Nach der Zerschlagung des IS Jahr waren viele Menschen dabei, diesen Teil des Landes aufzubauen. Jetzt sind die Menschen in die angrenzenden Gebiete geflohen, hausen auf engstem Raum. Schulen sind besetzt. 70.000 Kinder können nicht zur Schule gehen. Es fehlt an vielem, an Nahrungsmitteln zum Teil, an einigen Orten sogar an Trinkwasser. Die medizinische Versorgung ist zunehmend schwierig, berichtet der kurdische Rote Halbmond. Diese Invasion hat eine Kaskade humanitären Desasters ausgelöst.

Wie viele und welche Menschen sind denn eigentlich noch zurückgeblieben und sind nicht geflohen vor den türkischen Truppen und Hilfstruppen?

Ich habe mit Kollegen geredet, die vorher im Krankenhaus von Serekaniye gearbeitet haben, das gehört zu dem eroberten Gebiet. Die Kollegen sind mit ihrer ganzen Familie mit Sack und Pack geflohen. Die haben berichtet: Nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung ist dort geblieben. Weil im Grunde genommen jeder geflohen ist, der für diese selbstverwaltete Region in irgendeiner Form tätig war - ob das jetzt ein Straßenverkehrspolizist war oder ein Mensch in der Verwaltung war oder halt auch jemand, der im Krankenhaus gearbeitet hat  - speziell wenn er kurdischstämmig ist. Einige Leute meinen, man könnte mit der türkischen Besatzung leben und sind geblieben. Aber das ist eine ganz kleine Minderheit. Die müssen sich jetzt neuen Regeln unterwerfen. Von verschiedenster Seite wird berichtet, dass diese Regeln jetzt schon so aussehen, dass in bestimmten Städten Frauen wieder gezwungen werden in Schwarz zu gehen und sich zu verschleiern.

Der türkische Einmarsch hat eine gewaltige Fluchtwelle ausgelöst - in einem zuvor relativ ruhigen GebietBild: picture-alliance/AP Photo/H. Malla

Am Mittwoch haben in Genf Gespräche begonnen über eine künftige syrische Verfassung. Kurden dürfen daran nicht teilnehmen wegen türkischen Drucks. Interessiert dieser Prozess die Menschen in Nordsyrien überhaupt noch?

Große Hoffnung setzen die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, nicht auf diese Gespräche. Dass diese Region, wo kurdische Menschen versuchen mit Assyrern, Aramäern und Arabern in Eintracht zu leben und eine gemeinsame Verwaltung zu organisieren, nicht einbezogen wird, ist für die meisten dort schlechterdings ein Unding. Entsprechend misstrauisch beobachten sie, was in Genf passiert. Aber man versucht, Teile der Selbstverwaltung in die Zukunft hinüber zu retten. Was jedoch schwierig ist. Jetzt stehen wieder Truppen des Assad-Regimes in diesem Gebiet, die man in der Not gerufen hat. Das Assad-Regime ist bei den meisten Kurden nicht sehr beliebt. Man hat schlechte Erfahrungen gemacht. Dem Assad-Regime wird eine kurdische Autonomie-Zone vermutlich ein Dorn im Auge sein. Und wenn erst Idlib für Assad kein Problem mehr ist, muss man damit rechnen, dass er diese autonomen Zone zentralistisch nach Damaskus hin ausrichten wird.

Die Fragen stellte Matthias von Hein.