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Novemberpogrome: Die Welt schaute zu

Sarah Judith Hofmann
9. November 2018

In der Nacht des 9. Novembers 1938 werden überall in Deutschland Synagogen, Geschäfte, Wohnungen zerstört. Juden werden gedemütigt und misshandelt - vor den Augen der Deutschen und der Welt.

Juden werden in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gezwungen einen riesigen Davidstern zu tragen (Copyright: Urheber Unbekannt commons.wikimedia.org/wiki)
Bild: gemeinfrei

"Ich kann mich noch sehr gut an den Morgen des 10. Novembers erinnern", sagt W. Michael Blumenthal. "Mein Vater wurde am frühen Morgen verhaftet. Inmitten der allgemeinen Aufregung und trotz des Verbots meiner Mutter konnte ich unbemerkt auf die Straße laufen. Ich sah die eingeschlagenen Schaufenster am Kurfürstendamm und die noch rauchende, aber nicht mehr brennende Synagoge in der Fasanenstraße." Damals war er gerade einmal zwölf Jahre alt. 80 Jahre später ist der ehemalige Direktor des Jüdischen Museums in Berlin Amerikaner. 

Die nach der Brandsetzung vom 9. November rauchende Synagoge in der Berliner FasanenstraßeBild: Getty Images

Gedemütigt und geschlagen

In der Nacht vom 9. auf den 10. November gab es in ganz Deutschland und Österreich furchtbare Ausschreitungen gegen Juden. Hunderte Synagogen und Gebetshäuser wurden geplündert, zerstört und in Brand gesetzt. Menschen sind auf offener Straße gedemütigt, geschlagen, in einigen Fällen auch ermordet worden - nur weil sie Juden waren. Die Polizei schaute zu, die Feuerwehr löschte nicht die in Brand gesetzten Synagogen und jüdischen Geschäfte, sondern lediglich die umliegenden Häuser.

Und dies war nur der Anfang. Bereits am 10. November wurden 30.000 jüdische Männer in die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald gebracht. Darunter auch der Vater von W. Michael Blumenthal. "Ich erinnere mich noch an die Worte meiner Mutter, als er von zwei Polizisten abgeführt wurde. 'Was ist los? Was macht ihr mit ihm? Was hat er getan? Wohin wird er gebracht?' Selbst als zwölfjähriges Kind fühlt man die Angst der Erwachsenen, in diesem Fall meiner Mutter."

W. Michael Blumenthal war in den 70er Jahren US-Finanzminister. Von 1997 bis 2014 war er Direktor des Jüdischen Museums Berlin (Archivbild)Bild: picture alliance/BREUEL-BILD

Warum der 9. November 1938?

Körperliche Übergriffe und Einschüchterungen waren in Deutschland bereits seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 an der traurigen Tagesordnung. Die Nürnberger Gesetze legten seit 1935 fest, wer Jude war, viele hatten plötzlich Berufsverbot. Weitere Gesetze hatten den Zugang zu öffentlichen Räumen beschränkt, auch war jüdisches Eigentum vielfach bereits enteignet - "arisiert" - worden.

Aber: "Es ist wichtig, dass man den November 1938 als Einschnitt in die Geschichte begreift", sagt der Schweizer Historiker Raphael Gross, der von 2006 bis 2015 das Jüdische Museum Frankfurt leitete und heute Präsident des Deutschen Historischen Museums in Berlin ist. "Nach 1938 war das, was man die Epoche des deutschen Judentums nennt, vorbei. Die deutsche Gesellschaft war danach eine andere."

In dieser Nacht ging weit mehr zu Bruch als Glas. 91 Menschen wurden getötet, tausende Juden am Folgetag verhaftet. Wer konnte, verließ danach das Land.Bild: AP

Den für die Nationalsozialisten willkommenen Anlass für das Pogrom liefert das Attentat des jüdischen Teenagers Herschel Grynszpan auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath am 7. November in Paris. Gleich nachdem das deutsche Radio die Tat gemeldet hat, brechen in einigen deutschen Städten antijüdische Krawalle aus. Deutschlandweit beginnen die Ausschreitungen jedoch erst zwei Tage später - nachdem Hitler persönlich den Befehl dazu gegeben hat.

Von München aus, wo sich die gesamte NS-Führung zum Jahrestag des Hitlerputsches versammelt hat, hält schließlich Reichspropagandaminister Goebbels eine Rede, in der er anordnet, jüdische Geschäfte zu zerstören und Synagogen in Brand zu stecken. Die Polizei soll sich nicht einmischen, die Feuerwehr allein "arisches" Eigentum schützen. Plünderungen sind verboten.

Dieses Bild von der Zerstörung jüdischer Geschäfte am Berliner Kurfürstendamm ging um die Welt: Die New York Times berichtet am 20.11.1938Bild: Entschädigungsbehörde Berlin

Dies wird noch in derselben Nacht umgesetzt. Nicht nur in Berlin, auch in Köln, Hamburg, Frankfurt, in kleinen Städten, Dörfern, in ganz Deutschland. "Aus unterschiedlichen Gründen haben die Deutschen entweder mitgemacht oder weggeguckt", erinnert sich Blumenthal. Auch wenn dies nicht bedeute, dass allen gefallen habe, was geschah. Aber: "Viele haben still und betreten hingeguckt."

"Der November 1938 geschah vor aller Augen, vor der Presse der Welt, vor den Gesandtschaften, vor allen Bürgern", sagt Historiker Raphael Gross.

"Der Kurfürstendamm sah wie ein Schlachtfeld aus"

Trotz des offiziellen Verbots wird am 9. und 10. November geplündert. "Auf den Straßen sah man Banden von Jugendlichen, die aus den israelitischen Gotteshäusern geraubte Kultgegenstände herumzeigten […]", berichtet der brasilianische Botschaftsrat. Sämtliche in Deutschland stationierte Diplomaten informierten ihre Heimatländer über die Vorfälle. "Die Berichte sind voller Abscheu, und es fallen Worte wie 'Kulturbarbarei'", weiß Hermann Simon. Dem Gründungsdirektor des Centrum Judaicum ist es gelungen, Berichte von Hamburg bis Innsbruck, von Köln bis Breslau zu sammeln - verfasst von Diplomaten aus 20 Ländern, die 1938 in Deutschland stationiert waren.

Der britische Generalkonsul in Frankfurt, Robert T. Smallbones, berichtete nicht nur: Er stellte tausende Transitvisen aus, mit denen Juden nach England fliehen könnenBild: Sandra Wellington/The Smallbones Family Archives, Brasilien

Da ist zum Beispiel der polnische Generalkonsul in Leipzig. Er beschreibt das Schicksal der Familie des polnischen Staatsbürgers Sperling. "Sperlings Ehefrau wurde nackt ausgezogen, und die Schläger versuchten, sie zu vergewaltigen."

Beim lettischen Botschafter heißt es: "Der Kurfürstendamm sah wie ein Schlachtfeld aus". Der finnische Vertreter berichtet von "vernichtender Kritik" aus der Bevölkerung. "Ich schäme mich als Deutscher", sei eine "ganz häufige Äußerung, die man hört".

Die Welt sieht zu

Konkrete Forderungen oder Handlungsvorschläge an ihre Heimatregierungen schicken die Diplomaten nicht. "Es herrscht ein Abwarten und die trügerische Hoffnung, man könne sich irgendwie mit dem Regime arrangieren", sagt Hermann Simon. "Insofern ist das Echo auf die Berichte relativ gering."

Raphael Gross widerspricht: "In der Folge des November 1938 beginnen die Kindertransporte nach England. Es haben durchaus Staaten reagiert, aber viel zu wenig." Dass die Nationalsozialisten den Plan fassen würden, sämtliche Juden auf der Welt ermorden zu wollen, habe man zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht absehen können, meint er.

Und so schreibt der italienische Botschaftsrat am 16.11.1938: "Es ist […] nicht vorstellbar, dass 500.000 Menschen eines Tages alle an die Wand gestellt oder zum Selbstmord verurteilt werden oder dass man sie in riesige Konzentrationslager sperrt." Eine fatale Fehleinschätzung.

Der Familie von W. Michael Blumenthal gelingt 1938 die Flucht nach Shanghai. Es ist der einzige Ort, an dem zu diesem Zeitpunkt noch Flüchtlinge ohne Visa an Land gehen dürfen.

Dieser Artikel wurde vor fünf Jahren erstmals veröffentlicht. Der ehemalige Direktor des Jüdischen Museums Berlin, W. Michael Blumenthal (92), ist seit 2014 im Ruhestand. Er lebt in Princeton in den USA.

Zum Weiterlesen:
- W. Michael Blumenthal: In achtzig Jahren um die Welt. Mein Leben. Ullstein, 2010.
- Raphael Gross: November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe. C.H. Beck,

2013.

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