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NS-Überlebende kämpft um Entschädigung

Nadine Mena Michollek
8. April 2022

Frieda Daniels ist 89 Jahre alt, Hochseilartistin - und Sintiza. Sie und ihre Familie wurden in der Nazizeit verfolgt. Eine angemessene Entschädigung für das erlittene Unrecht gab es bisher nicht. Sie kämpft weiter.

Frieda Daniels - NS-Überlebende kämpft um Entschädigung
Frieda Daniels mit 18 Jahren vor dem Wohnwagen ihrer FamilieBild: Privatarchiv

Eigentlich ist es ein trauriges Thema: NS-Verfolgung ihrer ganzen Familie, fehlende Entschädigung. Trotzdem lacht Frieda Daniels, geborene Lemoine, viel und laut. Das hat sie offenbar in ihrem Leben oft getan. Lachfältchen umranden ihre Augen und ihren Mund. Sie wirkt nicht wie eine 89-Jährige, eher wie 60. Die ehemalige Hochseiltänzerin hat immer noch ein Seil im Garten gespannt, auf dem sie balanciert. "Das ist mein Kuttelstück", sagt Frieda und lacht.

Auch heute noch steht Frieda Daniels auf dem Seil in ihrem Garten in KalifornienBild: Privatarchiv

Das erste Mal stand Frieda mit fünf Jahren auf dem Hochseil. In Stade, Niedersachen. "Alle standen still, haben geguckt und ich bin da rüber. Die ganzen Menschen vom Markt sind zum Hochseil gekommen. Am Ende hat mir jeder ein bisschen Geld gegeben, das war so schön!". Alle in Friedas Familie waren Hochseilartisten. Ihr fester Wohnsitz war in Hamburg, aber während der Saison reisten sie mit Wohnwagen durch Deutschland, um ihre Kunst zu zeigen. 

Schausteller-Berufe galten als betrügerisches Gewerbe

Als Frieda das erste Mal auf dem Hochseil stand, war Hitler schon fünf Jahre an der Macht, 1938. Zu jener Zeit deportierte der NS-Staat schon Sinti und Roma, die nicht bereit waren, ihr Schaustellergewerbe aufzugeben, in Konzentrationslager. Einige waren Händler, Musiker oder Artisten. Bereits ab 1933 galten diese Berufe als "unproduktives oder betrügerisches Gewerbe".

Verfolgung und Demütigung

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Das Berufsverbot traf Friedas Familie 1942. Sie wurden festgesetzt. Dies war für das NS-Regime eine Vorbereitung für die Deportation und Vernichtung. Die Betroffenen mussten an einem Ort bleiben. Friedas Familie und viele andere Sinti und Roma konnten ihre Berufe nicht mehr ausüben. Sie verfielen in Armut. 

"Das war schlimm, not easy", sagt Frieda. Immer wieder mischt sich ihr Deutsch mit englischen Wörtern. 1954 wanderte sie in die USA aus. Heute lebt sie in Temecula, Kalifornien. Wir sprechen per Videocall.

"Sie wussten, dass wir Zigeuner sind"

Während ihrer Festsetzung litten sie Hunger, erzählt Frieda. Sinti und Roma haben viel weniger Lebensmittelmarken als andere bekommen. Frieda und ihre Geschwister durften nicht mehr zur Schule. Die anderen Kinder beschimpften sie als "Zigeuner". Während der Bombardierungen ließ sie niemand in die Schutzkeller. "Sie wussten, dass wir Zigeuner sind, weil wir dunkle Haare, dunkle Augen hatten. Meine Mutter war in anderen Umständen, mit zehn Kindern, die Bomben fielen, die Laternen brannten und niemand ließ uns rein. Es war furchtbar." 

Damals, in Stade...

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Das NS-Regime wollte alle Sinti und Roma polizeilich und rassenbiologisch erfassen. Auch Friedas Vater Johann. Er musste zu einer "rassenbiologischen Untersuchung": Die Nationalsozialisten vermaßen und fotografierten Sinti und Roma in demütigenden Untersuchungen - oft auch unter Gewalt - und erstellten sogenannte "Rassegutachten". Für das Regime waren sie eine "minderwertige Rasse".

Allgegenwärtige Angst vor Deportation

Einmal erfasst, war es kaum möglich zu fliehen. Friedas Vater musste sich während der Festsetzung alle zwei Wochen bei der Gestapo melden und zwei Kinder mitnehmen. Auch Frieda war einmal dabei. Sie wurde vor Ort von ihrem Vater getrennt und verhört. Bis heute habe sie ein beklemmendes Gefühl, wenn sie zu Behörden müsse oder Polizei sehe. Für ihre Mutter seien die NS-Verhöre das Schlimmste gewesen: "Sie war immer nur am Weinen. Sie wusste ja nicht, ob wir zurückkommen." Die Nationalsozialisten hatten schon viele ihrer Angehörigen deportiert. 

Programm von 1947: Die Show war nach dem Familiennamen der Künstler benannt - "Lemoine"Bild: Privatarchiv

Friedas Eltern stritten immer wieder. Sollten sie fliehen oder bleiben? Vor Ort drohte früher oder später die Deportation in ein Konzentrationslager, aber sie hätten vielleicht noch die Chance, vorher von den Alliierten befreit zu werden. Wenn die Nazis sie aber bei der Flucht erwischten, erfolgte sofort die Deportation.

Frieda springt von ihrem Stuhl auf, holt ein Foto von ihrem Vater, um es mir zu zeigen. Schlank, stolz, schwarzer Anzug, schwarze Haare. Er wäre ein guter Diplomat gewesen, sagt sie lächelnd. Er habe immer viele Kontakte gehabt, gute Beziehungen. Als sie kein Essen hatten, besorgte er es. Als sie keine Unterkunft hatten, beschaffte er eine neue. Als sie fliehen mussten, organisierte er die Zugfahrkarten.

Frieda und ihre Familie fliehen vor den Nazis

"Mein Vater hat heimlich BBC-Radio gehört. Dadurch erfuhr er, dass Hamburg großflächig bombardiert werden sollte." In ihren Wohnwagen hätten sie keine Chance gehabt zu überleben. Mitten in der Nacht nahmen sie den Zug, ließen alles zurück. Sie versteckten sich in Thüringen bei ihrer Großmutter mütterlicherseits, die keine Sintiza war. Eigentlich wollten sie wieder zurück, doch ihre Wohnwagen wurden komplett zerstört. Frieda sagt, vielleicht sei das ihr Glück gewesen. Vielleicht hätten die Nazis gedacht, sie seien bei der Bombardierung gestorben.

Frieda hält Fotos aus der Zeit nach 1945 in die Kamera. Sie will mir alles zeigen. Die Familie wohnte in Kassel, war aber in ganz Deutschland mit ihren Hochseil-Shows unterwegs. Fotos aus der Zeit davor gibt es keine mehr, sie sind bei der Bombardierung verbrannt. Ihre Töchter und Enkelkinder sollen ihr immer wieder neue Bilder bringen. Ich sehe Frieda in schwarz-weiß, mit 18 Jahren vor dem Wohnwagen ihrer Familie, mit Anfang 20 auf dem Hochseil oder mit ihrem Vater beim Vortanzen im Moulin Rouge in Hollywood. 

Frieda mit ihrem Bruder Karl bei einer Hochseil-Show Ende der 1940-er JahreBild: Privatarchiv

Frieda kämpft weiter um Entschädigung

Eine richtige Entschädigung für das erlittene Unrecht hat Frieda bis heute nicht bekommen. Einmalig etwa 2000 Euro, das sei alles gewesen, sagt sie. Sie kämpft um fortlaufende Entschädigungszahlungen für die Jahre, die sie nicht zur Schule gehen konnte, den wirtschaftlichen Schaden durch den Verlust ihres Gewerbes und auch für das psychische und physische Leid. Es ist kein Einzelfall: Die Bundesregierung erkennt die sogenannte Festsetzung bis heute nicht als spezifische nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahme an. Historiker sehen das anders: Das NS-Regime verfolgte ab 1939 das Ziel, die gesamte noch verbleibende Sinti- und Roma-Bevölkerung aus dem Deutschen Reich zu deportieren. Heinrich Himmler, der Reichsführer-SS, befahl die Festsetzung, um die vollständige Deportation vorzubereiten. 

Frieda (3. v.r., oben) in den 1980-er Jahren gemeinsam mit ihren zehn Geschwistern und ihrer Mutter Helene (Mi., unten)Bild: Privatarchiv

Der im Jahr 2021 veröffentlichte Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus fordert, die wenigen noch lebenden Betroffenen der Festsetzung endlich angemessen zu entschädigen. Die Bundesregierung hatte die Kommission beauftragt, zwei Jahre lang die Situation der Sinti- und Roma-Community zu untersuchen. Auch Frieda kämpft gemeinsam mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma weiter. Eigentlich geht es nicht um viel, etwa 400 Euro monatlich.

"Das wäre wunderbar! Aber der Zentralrat sagt, sie seien immer noch im Gespräch. Doch wie lange soll das noch dauern? Wir sind ja alle schon fast 90. Wir waren da, wir haben das erlebt!"