Naziparole als Abitur-Motto – Skandal an deutschem Gymnasium
24. Mai 2025
Im besten Fall ist das Abitur-Motto ein Spruch, an den man sich noch sein ganzes Leben lang gern zurückerinnert. Er ziert die T-Shirts des Abschlussjahrgangs, dient als Inspiration für die vielen Abitur-Partys und ist häufig der Titel der Abi-Zeitung, mit dem die 18- und 19-Jährigen den Lebensabschnitt Schule feierlich beenden.
Für einige Schülerinnen und Schüler des Liebiggymnasiums im hessischen Gießen ist das Abitur-Motto dagegen jetzt etwas, was man schon lieber heute als morgen vergessen würde. Oder wie es die Schülersprecherin Nicole Kracke gegenüber dem "Spiegel" ausdrückt: "Wir sind jetzt die mit dem Nazi-Stempel. Das schmerzt."
"Abi macht frei" (in Anlehnung an die Eingangsschilder "Arbeit macht frei" über den Toren der KZ-Vernichtungslager), "Abi-Akbar – Explosiv durchs Abi" (mit Bezug auf islamistische Terroranschläge) und "NSDABI – Verbrennt den Duden" (in Bezug auf die Nazipartei NSDAP, die Bücherverbrennungen der Nazis und Juden) hießen die Vorschläge in einer anonymen Online-Abstimmung für das Abimotto 2026.
Einige Schülerinnen und Schüler reagierten gedankenschnell und meldeten dies sofort der Schulleitung. Der Zugang zu dem Portal wurde gelöscht, der gesamte Jahrgang einberufen und eine Stellungnahme vorbereitet: "In unserer Schulgemeinde haben Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung keinen Platz. Hierfür stehen wir gemeinsam ein!" Die Polizei ermittelt wegen des Anfangsverdachts der Volksverhetzung.
Provokation oder schon rechtsextreme Einstellung?
Nur eine Provokation und Entgleisung einiger unreifer Abiturienten, ein Dumme-Jungs-Streich oder vielleicht doch der ultimative Beweis, wie sehr rechtsextreme Einstellungen bei immer mehr Jugendlichen verfangen? Die Naziparolen als Abimotto schlugen in Deutschland jedenfalls so hohe Wellen, dass sich sogar die neue Bildungsministerin Karin Prien (CDU) zu Wort meldete. Sie forderte, den Besuch von KZ-Gedenkstätten für alle Schulen Deutschlands verpflichtend zu machen.
Ist der Vorfall in Gießen nur die Spitze eines Eisbergs? Vor dem Vernichtungslager Auschwitz, in dem die Nationalsozialisten über eine Million Menschen ermordeten, zeigten Neuntklässler aus dem sächsischen Görlitz einen Neonazi-Gruß. In Oelsnitz, auch in Sachsen, ließ sich eine Oberschullehrerin versetzen, weil sie von Rechtsextremen bedroht wurde. Und im hessischen Wiesbaden applaudierten Schüler bei einem Lehrfilm über die Ermordung von Millionen Juden.
Tina Dürr war deswegen auch nicht besonders überrascht, als sie von dem Gießener Vorfall erfuhr. Sie ist stellvertretende Leiterin des Demokratiezentrums Hessen, das Schulen, Kommunen oder Vereinen im Kampf gegen Rechtsextremismus zur Hilfe kommt und berät. "Provokationen und rechtsextreme Äußerungen wie zum Beispiel bei diesem Abimotto haben allgemein an Schulen zugenommen, das bekommen wir vermehrt auch berichtet", sagt sie der DW. "Es sind Hakenkreuze und rechtsextreme Schmierereien, Hitlergrüße, rassistische oder rechtsextreme Lieder, die auf Klassenfahrten gesungen werden."
Rechtsruck: Schulen als Spiegelbild der Gesellschaft
Die Bundesländer erfassen die rechtsextremistisch motivierten Straftaten an Schulen nicht einheitlich, aber eine Umfrage der "Zeit" bei den Innenministerien der Länder zeigte ein beunruhigendes Bild: 2024 sind demnach rechtsextreme Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr um mindestens 30 Prozent gestiegen. Die Schulen als Spiegelbild der Gesellschaft, in der solche Positionen und Provokationen immer salonfähiger werden. Dürr weiß auch, wie die Jugendlichen angesprochen werden.
"Junge Männer bewusst vorpolitisch über Kampfsport, um sie für völkische Ideen und toxische Männlichkeitsideale zu gewinnen." In den sozialen Medien setze vor allem die in Teilen rechtsextreme AfD auf das Thema Frauenfeindlichkeit. "Die Abwertung von Frauen und die Rückkehr zu einem klassisch traditionellen Geschlechterrollenbild, beides Elemente des Rechtsextremismus, erleben eine neue Konjunktur. Selbstbewusste Frauen werden abgewertet, queere Menschen werden abgewertet, bis hin zu Gewalttaten und Femiziden."
Vor allem für die Lehrerinnen und Lehrer bedeutet dies eine enorme Herausforderung. Vor zwei Jahren sorgte der Fall von zwei Lehrern in Brandenburg deutschlandweit für Aufsehen, die rechtsextreme Vorfälle an ihrer Schule öffentlich machten, danach massiv angefeindet wurden und schließlich entnervt die Schule verließen. Dabei sei eine Reaktion von Lehrkräften mehr denn je gefragt, weil sonst rechtsextreme und rassistische Provokationen salonfähig würden, sagt Tina Dürr vom Demokratiezentrum Hessen.
"Wenn man bei rechtsextremen Vorfällen nicht eingreift und die Täter gewähren lässt, suggeriert man den Schülerinnen und Schülern ein Stück weit, das sei normal. Was zentral ist: Wir müssen denen, die sich trauen, für demokratische Werte einzustehen und Extremismus als Problem zu benennen, den Rücken stärken."
Holocaust für immer mehr Schüler weit weg
Stefan Düll kennt dieses Thema nur zu gut und aus eigener Erfahrung. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes ist gleichzeitig Schulleiter eines Gymnasiums im bayerischen Neusäß. Er plädiert bei rechtsextremen Entgleisungen von Schülern für maximale Härte: Polizei einschalten, Anzeige erstatten, öffentlich Bedienstete seien von Amts wegen verpflichtet, zu handeln.
"Wir können Straftaten nicht unter den Teppich kehren und sagen, das machen wir mal ein bisschen mit persönlicher Ansprache, und das war es dann. Selbst wenn der Täter erst 13 Jahre alt ist, müssen wir es der Polizei melden. Und wenn diese dann bei dem Täter vorbeischaut und eine Ansprache macht, hat das noch einmal eine andere Qualität als bloße schulische Ordnungsmaßnahmen, die zusätzlich zu verhängen sind", sagt er der DW.
Düll unterstützt die Forderung von Bundesbildungsministerin Prien, den Besuch einer KZ-Gedenkstätte verpflichtend zu machen, 90 Prozent der Schulen täten dies sowieso schon. Doch die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten werde auch für die Bildungseinrichtungen immer schwerer, so der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes.
Einer Studie der Jewish Claims Conference zufolge wussten etwa 40 Prozent der befragten 18- bis 29-jährigen Deutschen nicht, dass etwa sechs Millionen Jüdinnen und Juden in der Zeit des Nationalsozialismus ermordet wurden. Zeitzeugen, welche die Schulen besuchen, wie die jüngst verstorbene Margot Friedländer, werden bald nicht mehr da sein. Und der zeitliche Abstand werde immer größer, die Schüler lebten im Hier und Jetzt, so Stefan Düll.
"Rechtsextreme Vorfälle an Schulen nehmen zu, weil der unmittelbare Bezug auch über die eigene Familie nicht mehr da ist. Wir haben einerseits Schüler, deren Eltern und Großeltern überhaupt nichts mit dem Dritten Reich zu tun hatten, weil diese überhaupt nicht hier gelebt haben. Und wir haben die anderen, deren Eltern und Großeltern erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurden."