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NS-Prozess: Fünf Jahre Haft für 101-Jährigen

28. Juni 2022

Ein früherer Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen wurde wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 3500 Fällen verurteilt. Fünf Jahre Haft war auch die Forderung der Staatsanwaltschaft.

Urteil im Prozess gegen mutmaßlichen KZ-Wachmann
Der Angeklagte wird zur Urteilsverkündung in den Gerichtssaal gebrachtBild: Fabian Sommer/picture alliance/dpa

Josef S. hatte bis zuletzt bestritten, überhaupt im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin tätig gewesen zu sein. Das Landgericht Neuruppin kam aber zu dem Schluss, dass die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Unterlagen seine Rolle dort ausreichend belegen. So gibt es Dokumente zu einem SS-Wachmann mit dem Namen, Geburtsdatum und Geburtsort des Mannes und weitere Unterlagen.

"Das Gericht ist zur Überzeugung gelangt, dass Sie entgegen Ihren gegenteiligen Beteuerungen rund drei Jahre lang in dem Konzentrationslager als Wachmann tätig waren", sagte der Vorsitzende Richter Udo Lechtermann bei der Urteilsverkündung. Damit habe der Angeklagte Terror und Mordmaschinerie der Nationalsozialisten mitgetragen, und dies sei ihm auch bewusst gewesen. "Das sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die keine zivilisierte Gesellschaft dulden kann", so Lechtermann. "Es gibt Orte, an denen man nicht bleiben darf, und Dinge, die man nicht machen darf. Hätten Sie das erkannt, säßen Sie heute nicht hier".

Häftlinge im KZ Sachsenhausen 1938Bild: Getty Images/Newsmakers/Courtesy of the National Archives

Mit dem Urteilsspruch von fünf Jahren Haft folgte das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft; die Verteidigung hatte einen Freispruch oder im Fall einer Verurteilung eine Bewährungsstrafe gefordert. Jetzt will der Anwalt in Revision gehen.

Die Staatsanwaltschaft hatte dem Mann vorgeworfen, zwischen 1942 und 1945 "wissentlich und willentlich" Hilfe zur Ermordung von KZ-Insassen geleistet zu haben: Beihilfe zum Mord, wie es juristisch heißt, in 3518 Fällen. Konkret ging es unter anderem um Beihilfe zur Erschießung von sowjetischen Kriegsgefangenen und um Beihilfe zur Ermordung von Häftlingen durch den Einsatz von Giftgas. Häftlinge seien ebenso "durch die Schaffung und Aufrechterhaltung lebensfeindlicher Bedingungen" ums Leben gekommen.

Das KZ Sachsenhausen

Das KZ Sachsenhausen in Oranienburg nördlich von Berlin nahm während der NS-Zeit eine Sonderstellung ein: Es diente seit seiner Fertigstellung 1936 als Modell für weitere Konzentrationslager, war später Verwaltungszentrale des gesamten KZ-Systems und ein Schulungslager der SS. Die SS, kurz für Schutzstaffel, gilt als wichtigstes Terror-Instrument der Nationalsozialisten. 

Insgesamt waren mehr als 200.000 Menschen hier inhaftiert. Zehntausende wurden erschossen, vergast, starben an grausamen medizinischen Versuchen oder schlicht an den unmenschlichen Haftbedingungen. Noch Ende April 1945, als die Rote Armee kurz vor Oranienburg stand, trieb die SS mehr als 30.000 Menschen auf sogenannte Todesmärsche, wobei weitere tausende Häftlinge starben.

Ein überlebender Häftling berichtet

Der Prozess gegen Josef S. hatte bereits im Oktober vergangenen Jahres begonnen. Ein historischer Gutachter berichtete ausführlich über das KZ Sachsenhausen und die dortigen Zustände. An dem Verfahren waren auch 16 Nebenkläger beteiligt, darunter zehn Überlebende der NS-Verbrechen.

Ende Februar dieses Jahres wurde etwa der 98-jährige Alfons Studzinski per Videoschalte befragt, der 1940 mit 15 Jahren als politischer Häftling nach Sachsenhausen kam. Als Zeuge schilderte er unter anderem, wie Mithäftlinge aus Verzweiflung in die Sperranlagen des Konzentrationslagers liefen und dort von der SS erschossen wurden. "Aufhängen war keine Möglichkeit", sagte Studzinski damals. Er berichtete auch von Strafmaßnahmen wie stundenlangem Stehen auf dem Appellplatz, Hinrichtungen von Häftlingen durch die SS und den Todesmarsch vom 21. April bis zum 3. Mai 1945, der für ihn mit der Befreiung endete.

Manche Häftlinge ließen sich aus Verzweiflung absichtlich erschießen, indem sie in die Sperranlagen liefenBild: picture-alliance/dpa/M. Gambarini

Auf die Frage des Vorsitzenden Richters Udo Lechtermann an den Angeklagten, ob er Alfons Studzinski nach Abschluss der Vernehmung noch etwas sagen wolle, reagierte Josef S. mit einem Nein.

Mord und Beihilfe zum Mord verjähren nicht

Oberstaatsanwalt Thomas Will leitet die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen im baden-württembergischen Ludwigsburg. Seit ihrer Gründung 1958 sammelt die Einrichtung Informationen für staatsanwaltliche Vorermittlungen gegen NS-Verbrecher und treibt die staatsanwaltlichen Ermittlungen der Bundesländer voran. Will hat auch für diesen Prozess entscheidende Vorarbeit geleistet.

Sollte man einem Greis noch den Prozess machen wegen Taten, die 80 Jahre zurückliegen, und zwar einem vergleichsweise 'kleinen Rädchen' im großen Getriebe der nationalsozialistischen Tötungsmaschine, fragte die Deutsche Welle Thomas Will bei Prozessbeginn im Oktober. Er meinte: unbedingt ja, auch weil eine Verjährung von Mord gesetzlich ausgeschlossen werde, gerade vor dem Hintergrund der NS-Massenverbrechen. "Ziel eines Strafverfahrens ist stets die Feststellung der individuellen strafrechtlichen Schuld."

80 Jahre Wannseekonferenz

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Aber worin diese individuelle Schuld bestehen kann, das hat sich in der juristischen Praxis seit dem Urteil gegen den ehemaligen KZ-Aufseher John Demjanjuk 2011 verändert. Bis dahin galt der Nachweis einer direkten persönlichen Beteiligung an Tötungen als Bedingung für eine Strafverfolgung. Frühere KZ-Wachleute traten zwar auch schon in den 1960er und 1970er Jahren in NS-Prozessen auf, allerdings nur als Zeugen. Geändert hat sich seit 2011, so Will im Oktober, "dass bereits die allgemeine Dienstausübung in einem Konzentrationslager während erkennbarer systematischer Mordtaten eine Strafbarkeit wegen Beihilfe hierzu begründen kann, soweit entsprechende Feststellungen in der Hauptverhandlung dies tragen".

Wendepunkt Demjanjuk-Urteil

Demjanjuk war 2011 in München im Alter von 91 Jahren wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 28.000 Fällen zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt worden. In dem Urteil hieß es, Demjanjuk sei Teil der Nazi-Vernichtungsmaschinerie gewesen. Seitdem sind mehrere weitere Männer verurteilt worden, weil sie nach dem Urteil des Gerichts durch ihren Wachdienst Beihilfe geleistet haben und wussten, dass systematisch Morde begangen oder Häftlinge mit Todesabsicht unterversorgt wurden ("wissentlich und willentlich").

Der frühere KZ-Wachmann John Demjanjuk nach der Urteilsverkündung 2011 in MünchenBild: picture-alliance/dpa

Ob es bei den ganz wenigen verbleibenden Fällen jeweils noch zum Prozess kommt, ist oft eine Frage der Verhandlungsfähigkeit der Hochbetagten. Der jetzt verurteilte Josef S. ist heute 101 Jahre alt und war während der neunmonatigen Verhandlung nur wenige Stunden täglich vernehmungsfähig. Für ihn wurde extra ein Ruheraum eingerichtet. Es dürfte daher einer der letzten Fälle sein, in denen sich mutmaßliche NS-Verbrecher gerichtlich verantworten müssen.

Antoine Grumbach, dessen Vater als französischer Widerstandskämpfer in Sachsenhausen ermordet wurde, war in dem Prozess gegen Josef S. als Nebenkläger aufgetreten. Nach der Urteilsverkündung sagte er erregt: "Ich werde niemals verzeihen." Niemand sei zur SS gezwungen worden, jeder Mensch sei für seine Taten verantwortlich. Seine 23jährige Tochter Lily betrachtet das Geschehene vor allem als Verpflichtung: "Für meine Generation und künftige Generationen ist es sehr wichtig, wenn es keine direkten Zeugen dieser Geschichte mehr gibt, dass wir die Erinnerung wach halten."

Lily Grumbach, Enkelin eines KZ-Opfers: "Erinnerung wach halten"Bild: Luisa von Richthofen/DW

Thomas Walther, der Anwalt der Nebenkläger, schließt sich dem an: "Sachsenhausen kann an jedem Ort der Welt immer wieder geschehen." Der Gedanke "Wehret den Anfängen" sei daher eine ständige Aufgabe.

Dieser Artikel wurde am 28.06.2022 nach der Urteilsverkündung aktualisiert.

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