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Die lange Geschichte eines Scheiterns

2. Juli 2018

Nach gut fünf Jahren werden in Kürze die Urteile im Prozess gegen den "Nationalsozialistischen Untergrund" gefällt. Die von Angela Merkel genährten Hoffnungen auf schonungslose Aufklärung wurden enttäuscht. Eine Bilanz.

NSU Terroristen - Fahndungsplakat
Mit Hilfe dieses Plakates hoffte die Polizei nach dem Auffliegen des NSU auf Hinweise aus der Bevölkerung Bild: picture-alliance/dpa/A. Burgi

Das erste Opfer einer mysteriösen Mord-Serie starb am 11. September 2000, das letzte am 6. April 2006. Acht Männer hatten türkische Wurzeln, einer stammte aus Griechenland. Alle wurden mit derselben Waffe erschossen. Die Ermittler stocherten im Nebel, vermuteten die Täter im Drogen-Milieu, verdächtigten Familien-Angehörige. Ein rassistisches Motiv, also einen rechtsextremistischen Hintergrund, schlossen sie schnell aus. Niemand bekannte sich zu den Taten, die quer durch Deutschland verübt wurden. In den Medien war leichtfertig und instinktlos von "Döner-Morden" die Rede.

Und dann war da noch die am 25. April 2007 in Heilbronn erschossene Polizistin Michèle Kiesewetter, bei der niemand einen Zusammenhang mit den anderen ungeklärten Morden sah. Wie auch? Erst viereinhalb Jahre später fanden sie - völlig unerwartet - die Lösung und wieder war ein Verbrechen im Spiel. Nach einem gescheiterten Banküberfall in Eisenach am 4. November 2011 wurden die Leichen der mutmaßlichen Täter in einem ausgebrannten Wohnmobil gefunden. Ihre Namen: Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos.

Sie hatten sich anscheinend das Leben genommen, um ihrer Verhaftung zu entgehen. Dass die beiden Mitglieder einer rechtsextremistischen Terror-Gruppe namens "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) waren und hinter der rätselhaften Mord-Serie steckten, wurde durch ein wenig später an mehrere Medien verschicktes Video bekannt. Ein weiteres Exemplar entdeckten Polizisten im Schutt eines ebenfalls am 4. November explodierten Wohnhauses in Zwickau. Die Detonation war mutmaßlich von Beate Zschäpe ausgelöst worden, die schon im Januar 1998 mit Böhnhardt und Mundlos in den Untergrund gegangen war.

Elf Jahre nach dem ersten Mord enttarnt sich der NSU selbst

Fast 14 Jahre später steckte sie nach dem Tod ihrer Freunde die Bekenner-Videos in einen Briefkasten, irrte mehrere Tage durchs Land und stellte sich schließlich am 8. November 2011 der Polizei. Deutschland stand unter Schock. Wie konnte es möglich sein, dass der NSU so lange ungestört seine tödliche Blutspur durch ganz Deutschland ziehen konnte? Zur grausamen Bilanz gehören neben den zehn Morden zwei Bomben-Anschläge in Köln mit mehr als 20 Verletzten und 15 Raub-Überfälle.

Beate Zschäpe (r.) wendet sich zum Auftakt des NSU-Prozesses am 6. Mai 2013 von Fotografen und Kamera-Leuten ab Bild: picture-alliance/dpa/Peter Kneffel/

Wegen all dieser Taten werden Zschäpe und vier als NSU-Unterstützer Angeklagten seit dem 6. Mai 2013 vor dem Oberlandesgericht München der Prozess gemacht. Nach gut fünf Jahren mit über 430 Verhandlungstagen stehen die Urteile unmittelbar bevor. Die Bundesanwaltschaft ist von Zschäpes Schuld überzeugt und fordert eine lebenslange Haftstrafe bei Feststellung der besonderen Schwere der Schuld mit anschließender Sicherungsverwahrung. Für die vier mutmaßlichen Helfer hat die Anklage Strafen zwischen drei und zwölf Jahren beantragt.

Opfer und Angehörige messen Merkel an ihrem Versprechen

Sollte der Strafsenat unter dem Vorsitzenden Richter Manfred Götzl für Zschäpe die Höchststrafe verhängen, wäre eine vorzeitige Entlassung ausgeschlossen. Doch unabhängig vom Urteil für die Hauptangeklagte ist die Aufklärung der NSU-Verbrechen aus der Sicht von überlebenden Opfern und Angehörigen gescheitert. Sie haben sich auf das von Bundeskanzlerin Angela Merkel am 23. Februar 2012 bei der Gedenkfeier für die NSU-Opfer gegebene Versprechen verlassen: "Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen."

Gedenkfeier für Opfer der Neo-Nazi-Morde

02:29

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Viele Fragen aber seien offen geblieben, sagt Antonia von der Behrens. Die Berliner Anwältin vertritt im NSU-Prozess einen Sohn des 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşik. Ihr Mandant wird wohl nie erfahren, warum gerade sein Vater als Opfer ausgesucht wurde. Diese quälende Ungewissheit hätte nach Überzeugung der Nebenkläger nicht zuletzt Beate Zschäpe beenden können. Aber die will von den Morden immer erst im Nachhinein erfahren haben. Eine Behauptung, die von der Behrens für unglaubwürdig hält.

Die Rolle des Verfassungsschutzes bleibt im Dunkeln 

Sie ist davon überzeugt, dass der NSU weit mehr Unterstützer hatte, als in München angeklagt sind. Auch und gerade am Tatort. "Das war natürlich ein wichtiger Punkt, der hätte aufgeklärt werden sollen", sagt die Anwältin. Dafür hätte ihres Erachtens vor allem der Verfassungsschutz sorgen können. Der hatte über viele Jahre zahlreiche Spitzel, sogenannte V-Männer, im NSU-Umfeld platziert. Als Zeugen im Prozess durften sie auf Geheiß der Behörden nur bedingt oder gar nicht aussagen.

Das galt auch für ihre Auftraggeber und Ansprechpartner beim Verfassungsschutz. Deshalb fällte von der Behrens in ihrem im Dezember 2017 gehaltenen Plädoyer ein vernichtendes Urteil: "Die Verfassungsschutzämter haben die Aufklärung der zehn Morde, 43 Mordversuche und 15 Raubüberfälle systematisch verunmöglicht und hintertrieben."

Auch die parlamentarischen Aufklärer hätten gerne mehr erfahren

Offene Fragen hatten und haben auch die vielen Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zum NSU. Im Bundestag hat es davon sogar zwei gegeben, den letzten leitete der Christdemokrat Clemens Binninger. Auch er bezweifelt die Trio-These der Bundesanwaltschaft, wonach nur Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos der Terrorgruppe angehört hätten. "Haben innerhalb des Trios allein die beiden Männer alle Verbrechen begangen, ohne irgendwo Spuren zu hinterlassen?", fragt sich der inzwischen aus dem Bundestag ausgeschiedene Binninger.

Interview mit NSU-Aufklärer Clemens Binninger

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Der gelernte Polizist hätte auch gerne erfahren, wer am Ende den "entscheidenden Impuls" für die Auswahl der Tatorte und der Opfer gegeben habe. Die Morde wurden quer durch Deutschland verübt: Rostock und Hamburg im Norden, Dortmund im Westen, Kassel in der Mitte sowie Nürnberg, München und Heilbronn im Süden. Trotz der vielen Fragezeichen hofft Binninger, dass die Nebenkläger keine bleibenden Zweifel am deutschen Rechtsstaat hegen.

An deren Skepsis hat sich jedoch nichts geändert. Die unter anderem von Antonia von der Behrens vertretene Familie Kubaşik ist desillusioniert. Sie beklagt sich wie die meisten Nebenkläger über das, was die Anwältin "institutionellen Rassismus" nennt: einseitige Ermittlungen der Polizei im familiären Umfeld der Opfer wegen des Verdachts auf Drogen-Handel oder Banden-Kriminalität. Von der Behrens' Fazit fällt auch deshalb überwiegend negativ aus: "weil man nicht den politischen Willen gesehen hat", die Rolle des Verfassungsschutzes aufzuklären.

Der Generalbundesanwalt ermittelt gegen neun weitere Beschuldigte

Dieser Vorwurf gilt auch und gerade Bundeskanzlerin Merkel, die mit ihrem Versprechen der schonungslosen Aufklärung bei Opfern und Angehörigen große Hoffnungen geweckt hatte. Diese Aufklärung, sagt Nebenkläger-Anwältin von der Behrens, sei aber "ganz klar gescheitert". Damit meint sie die strafrechtliche im Münchener NSU-Prozess und die politische. Denn personelle Konsequenzen hatte das staatliche Versagen nicht. Lediglich der damalige Verfassungsschutz-Präsident Heinz Fromm übernahm Verantwortung und trat 2012 zurück - als Reaktion auf die zuvor bekannt gewordene Vernichtung von Akten mit NSU-Bezug kurz nach dem Auffliegen der Terror-Gruppe.

Verfassungsschutz-Präsident Fromm trat 2012 zurückBild: dapd

Die strafrechtliche Aufarbeitung des "Nationalsozialistischen Untergrunds" könnte nach dem Prozess vor dem Oberlandesgericht München weitergehen. Denn der Generalbundesanwalt führt seit Jahren Ermittlungsverfahren gegen neun weitere Beschuldigte. Allerdings sorgen sich Hinterbliebene von NSU-Opfern und Nebenkläger-Anwälte, dass am Ende trotzdem niemand angeklagt wird. "Das wäre ein fatales Signal in die militante Neonazi-Szene", sagt die Linken-Bundestagsabgeordnete und NSU-Expertin Martina Renner. Es würde nämlich die Botschaft aussenden: "Ihr könnt ein rechtsextremes, mörderisches Netzwerk unterstützen und nichts passiert."

NSU-Expertin Martina Renner hat mehr Zweifel denn je

Zweifel am Aufklärungswillen der politisch Verantwortlichen hegt Renner schon lange. Vor ihrer Wahl in den Bundestag war sie Obfrau des NSU-Untersuchungsausschusses im Landtag von Thüringen. Aus diesem Bundesland stammen Zschäpe, Böhnhardt, Mundlos und viele Rechtsextreme im Umfeld der Terror-Gruppe. Renners Erfahrung damals wie später in Berlin, aber auch als häufige Besucherin des NSU-Prozesses: Akten des Verfassungsschutzes sind geschwärzt oder bleiben unter Verschluss. Und manche wurden sogar vernichtet - warum auch immer.

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