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Politik

NSU: Viele offene Fragen

29. Juni 2017

Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages zieht Bilanz. Einig sind sich die Fraktionen in der Einschätzung rechtsterroristischer Gefahren. Beim Thema Verfassungsschutz gehen die Meinungen aber auseinander.

Gedenkstätte für NSU-Opfer
Bild: picture-alliance/dpa

An diesem Donnerstag beschäftigt sich der Bundestag in Berlin mit dem Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses. Parlamentspräsident Norbert Lammert (CDU) hat ihn bereits am Dienstag erhalten. Es war der zweite Versuch, das nach wie vor bestehende Dunkelfeld rund um die Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) und die ihr zur Last gelegten zehn Morde auszuleuchten. Zum ersten Mal hatte nach dem Auffliegen des Trios im November 2011 ein Untersuchungsausschuss des Bundestages seine Arbeit begonnen und am Ende der Legislaturperiode 2013 ein verheerendes Urteil gefällt: "Staatliches Totalversagen". Gemeint waren Polizei, Verfassungsschutz und Politik.

Ihnen - und der Gesellschaft insgesamt - gab das Gremium 47 Empfehlungen mit auf den Weg. Sie reichen von Strategien gegen alltäglichen Rassismus bis zur Reform von Sicherheitsbehörden. Knapp vier Jahre später stellen die Mitglieder des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses fest, dass noch sehr viel zu tun ist. Diesen Eindruck haben sie seit Ende 2015 in 54 Sitzungen mit 84 Zeugen und Sachverständigen gewonnen. Grundlage der Befragungen war ein gigantisches Aktenstudium: 12.000 Ordner mit einem Datenvolumen von 727 Gigabyte wurden durchforstet.

Zweifel an der Trio-These der Bundesanwaltschaft

Die Bilanz fällt überwiegend ernüchternd aus. Zeugen aus der rechtsextremen Szene hätten nicht das geringste Interesse gehabt, "an der Aufklärung mitzuarbeiten", sagt SPD-Obmann Uli Grötsch. Das wundert ihn zwar nicht, aber er ist empört und warnt vor der Gefahr von NSU-Nachahmern. Die Szene sei gewaltbereit, militant und gut vernetzt. Als Beispiel für neue rechtsterroristische Strukturen nennt er die "Gruppe Freital".

Größte Zweifel hegen Grötsch und die Ausschuss-Mitglieder der anderen Fraktionen an der Trio-Theorie der Bundesanwaltschaft. Die hält im Strafverfahren gegen den NSU vor dem Münchener Oberlandesgericht an ihrer These fest, dass die Hauptangeklagte Beate Zschäpe und ihre Komplizen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die sich 2011 umbrachten, die im Jahr 2000 begonnene Mordserie und mehrere Bombenanschläge ohne Unterstützung verübt hätten. Die Zweifel der Abgeordneten bleiben auch nach der Befragung von Bundesanwalt Herbert Diemer und seiner Kollegen im NSU-Untersuchungsausschuss.

Mentalitätswandel bei den Sicherheitsbehörden?

Zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangen die Parlamentarier, wenn es um den von ihnen angemahnten Mentalitätswandel in den Sicherheitsbehörden geht. Armin Schuster, Obmann der CDU/CSU, sieht Fortschritte: "Sie ahnen gar nicht, wie wir das Bewusstsein geschärft haben." Die anderen Fraktionen sind da skeptischer. Strukturelle Veränderungen allein bewirkten keinen Mentalitätswandel, heißt es bei der SPD. Die Opposition behauptet sogar das Gegenteil.

Protest gegen Aktenvernichtung am Rande des NSU-Prozesses in MünchenBild: DW/M. Fürstenau

Das Schreddern von Akten mit NSU-Bezug ("Operation Konfetti") wenige Tage nach dem Auffliegen der Terrorgruppe sei "amtsintern nie aufgeklärt worden", bemängelt Grünen-Obfrau Irene Mihalic. Der dafür verantwortliche Mitarbeiter begründete seine Entscheidung vor den Abgeordneten unverblümt damit, die Brisanz der Akten sofort erkannt zu haben. Dass der Generalbundesanwalt in Kenntnis dieser Aussage nichts unternommen hat, dafür hat Linken-Obfrau Petra Pau kein Verständnis.

Die Angehörigen der NSU-Opfer warten weiter auf Antworten

Pau, die auch Vizepräsidentin des Bundestages ist, würde den Verfassungsschutz am liebsten auflösen. Union und Grüne plädieren für eine Reduzierung der Zahl der Landesämter. Noch hat jedes der 16 Bundesländer ein eigenes Amt oder entsprechende Stellen innerhalb behördlicher Strukturen. SPD-Obmann Grötsch verweist hingegen auf die bereits vom ersten NSU-Untersuchungsausschuss empfohlene und auf den Weg gebrachte Reform des Verfassungsschutzes. Die Stellung des Bundesamtes (BfV) ist seitdem gestärkt. Ob die Zusammenarbeit deshalb besser funktioniert, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Clemens Binninger (CDU), gelernter Polizist, leitete den zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des BundestagesBild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

Trotz mancher Differenzen im Detail betont das Gremium unter dem Vorsitz von Clemens Binninger (CDU) übereinstimmend, dass die Aufklärung nach der Bundestagswahl im September weitergehen müsse. Für denkbar halten die Abgeordneten eine Enquête-Kommission, die sich über den NSU hinaus mit Rechtsterrorismus und Rassismus befasst. Den Angehörigen der NSU-Opfer ist all das zu wenig. Auf die quälende Frage, warum gerade ihr Vater, ihr Mann oder Sohn erschossen wurde, gibt es weiterhin keine Antwort - weder von Beate Zschäpe im Münchener NSU-Prozess noch durch die Recherchen des NSU-Untersuchungsausschusses.  

Innenminister könnten Akten-Öffnung anweisen

Hinweise finden sich möglicherweise in Akten des Verfassungsschutzes. Doch die bleiben weiterhin unter Verschluss. Begründung: Die Offenlegung menschlicher Quellen (V-Leute) gefährde deren Sicherheit und die Arbeit des Verfassungsschutzes. Trotzdem könnten die zuständigen Innenminister Akten freigegeben, meint CDU-Obmann Schuster. Besonders die Rolle des Verfassungsschutz-Mitarbeiters Andreas Temme in Hessen bereitet ihm weiterhin Kopfzerbrechen. Der war zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat in dessen Kasseler Internetcafé am Tatort, will aber im Gegensatz zu anderen Gästen nichts mitbekommen haben.

Temme verstrickte sich bei mehreren Befragungen in Widersprüche. NSU-Aufklärer Schuster sagt deshalb, es seien ihm "zu viele Zufälle". Seine Kollegin Pau mahnt, mit dem Prinzip "Quellenschutz vor Aufklärung" werde Angela Merkels Versprechen der schonungslosen Aufklärung unterlaufen. Das hatte die Bundeskanzlerin den Hinterbliebenen der NSU-Opfer auf der Gedenkveranstaltung im Februar 2012 in Berlin gegeben.          

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
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