Kommt die EU-Atombombe?
15. Februar 2024Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ist sichtlich genervt. Dass in Deutschland über europäische Atomwaffen in TV-Interviews gesprochen werden soll, gefällt ihm nicht. "Es gibt jetzt keinen Grund, über den nuklearen Schutzschirm zu diskutieren", sagt er im ARD-Gespräch.
Vor ein paar Tagen hatte der wahrscheinliche republikanische US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump für den Fall seines erneuten Wahlsieges gedroht, nicht jedem NATO-Land militärisch beizustehen. Wer nicht genug in Verteidigung investiere, den werde sein Land militärisch nicht unbedingt verteidigen. Er würde Russland "sogar dazu ermutigen, zu tun, was zur Hölle sie auch immer tun wollen". Trump droht also damit, die Beistandsverpflichtung der NATO aufzukündigen.
Im NATO-Artikel 5 heißt es: Werde ein Mitglied angegriffen, so sei dies de facto ein Angriff auf die gesamte NATO. Die Mitglieder müssten dann Maßnahmen treffen, um die Sicherheit des NATO-Gebietes zu gewährleisten. "Einschließlich der Anwendung von Waffengewalt", wie es im Vertrag festgelegt ist.
Atomwaffen für die EU?
Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley (SPD), hat wegen dieser Äußerungen Trumps Zweifel an der Verlässlichkeit des US-Atomwaffen-Schutzschirms für Europa geäußert. Die EU solle über die Anschaffung eigener Atomwaffen nachdenken, hatte Barley erklärt. Finanzminister Christian Lindner (FDP) sprach sich für eine engere Kooperation mit den europäischen Atommächten Großbritannien und Frankreich aus. Die Länder sind neben den USA die einzigen NATO-Nationen, die über – wenn auch nur relativ wenige – Atomwaffen verfügen.
Atommacht EU? Völlig illusorisch, erklärt Karl-Heinz Kamp gegenüber der DW. Er ist Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP); hat bei der NATO und im deutschen Verteidigungsministerium gearbeitet: "Diese EU ist ja bislang noch nicht mal eine Militärmacht. Wir haben keine gemeinsamen Streitkräfte. Wir haben keine gemeinsame Regierung. All' das wäre aber Voraussetzung für eine Nuklearmacht Europa. Wir müssten einen Präsidenten, einen Chef haben, der über diese Atomwaffen entscheidet. Solange wir das alles nicht haben, sind alle diese Überlegungen völlig illusorisch."
Schutzmacht USA
Die Debatte über europäische Atomwaffen sei eine "sehr deutsche Debatte, die wir in keinem anderen Land haben", sagt Kamp. Vor allem nicht in Osteuropa, wo man sich in besonderer Weise vom nahen und aggressiven Putin-Russland bedroht sehe, dass auch mit einem Nuklearkrieg drohe.
Eine gemeinsame europäische Verteidigung werde es absehbar nicht geben, glaubt Kamp, "weil die osteuropäischen Länder dies gar nicht wollen. Sie sagen: Wo wären wir denn ohne die Amerikaner gewesen im Krieg Russlands gegen die Ukraine?". In einem Interview mit dem "Tagesspiegel" erklärt Maximilian Terhalle, Professor am Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel, hingegen: "Falls Trump gewinnt und Europa unvorbereitet ist, wird es mangels glaubwürdiger Abschreckung erpressbar. Europa muss sich dagegen robust und nuklear wappnen."
Die Situation in Deutschland hat sehr viel mit der jüngeren Geschichte zu tun. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges erklärte der erste Kanzler der noch jungen Bundesrepublik, Konrad Adenauer (CDU), schon 1954 den Verzicht Deutschlands auf eigene Atomwaffen. Die USA verpflichteten sich, die Bundesrepublik an der nuklearen Abschreckung gegenüber dem von Moskau dominierten Warschauer Pakt zu beteiligen.
"Ein Land, das bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs immer als immanent aggressiv angesehen wurde, zwei Weltkriege vom Zaun gebrochen hatte, war nicht als Land gedacht, dem man vertrauensvoll Atomwaffen zugestehen konnte", erläutert Experte Kamp. Auch deshalb habe es nie eine Diskussion gegeben über eigene Atomwaffen. "Und auch die, die jetzt über eine europäische Verteidigungsdimension reden, sprechen nicht von deutschen Nuklearwaffen, weil Deutschland Mitglied im Atomwaffensperrvertrag ist und sich mehrfach völkerrechtlich bindend auf den Verzicht des Besitzes von Massenvernichtungswaffen – auch Atomwaffenwaffen – verpflichtet hat."
Nach dem Fall der Mauer 1989, dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende der Trennung zwischen Ost- und Westdeutschland wurde die deutsche Haltung im sogenannten "Zwei-Plus-Vier-Vertrag" erneut zementiert: Keine Atomwaffen! Die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges (die USA, die Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien) legten am 12.9.1990 fest, dass Deutschland Ost und West (daher Zwei plus Vier) wiedervereinigt werden und auf Atomwaffen verzichten sollte. Auch, wie Kamp gegenüber der DW betont, weil "eine deutsche Atommacht etwas wäre, was Schrecken auslösen würde. Schon aus historischen Gründen."
Atomwaffen in Deutschland?
Während des Kalten Krieges (ca. 1947-1991) hatten die USA Westeuropa großflächig mit Atomwaffen bestückt, um die Sowjetunion von einem Angriff abzuhalten. Viele dieser Atombomben zog die US-Regierung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ab. Geschätzt rund 180 Nuklearwaffen lagern noch in Europa; in Italien, der Türkei, Belgien, den Niederlanden und Deutschland. Nukleare Teilhabe heißt dieses Modell, durch das der Nicht-Atomwaffenstaat Deutschland an den Atombomben der USA partizipieren kann.
Experten gehen davon aus, dass 20 US-Atombomben in dem Ort Büchel in Rheinland-Pfalz im Westen Deutschlands gelagert werden. "Aber die Entscheidungshoheit über diese Waffen liegt einzig und allein beim amerikanischen Präsidenten", erklärt DGAP-Experte Kamp.
Im TV-Interview kritisiert Verteidigungsminister Boris Pistorius die Äußerungen des US-Wahlkämpfers Donald Trump. Süffisant sagt Pistorius, er sei sich ziemlich sicher, "dass die Mehrzahl der Verantwortlichen in den Vereinigten Staaten von Amerika genau wissen, was sie an ihren transatlantischen Partnern in Europa haben, was sie an der NATO haben". Verteidigungsexperte Karl-Heinz Kamp formuliert es im DW-Interview so: "Trump kann vielleicht die NATO erheblich beschädigen, er kann sie aber nicht zerstören. In einer Amtszeit kann man nicht Jahrzehnte transatlantischer Beziehungen zerstören."