1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Nulltoleranz trifft Multikulti

Adrian Breda
26. September 2017

Acht Prozent aller Europäer, die sich dem IS anschließen, stammen aus der Region zwischen Antwerpen und Brüssel. Nur die Gemeinde Mechelen widersetzt sich der Radikalisierung erfolgreich. Adrian Breda berichtet.

Brüssel Place Emile Bockstael
Multikulturell ist Belgien schon lange, wie hier in BrüsselBild: DW/M. Kübler

Mechelen liegt auf halbem Weg zwischen Brüssel und Antwerpen. In der Innenstadt: aufwändig restaurierte Renaissance-Giebelhäuser, der Marktplatz dominiert von der gotischen Kathedrale und dem ebenfalls gotischen Rathaus. Von dort aus kämpft Bart Somers seit 2001 als Bürgermeister gegen Extremismus und Radikalisierung. Es ist ein Kampf, den er nie endgültig gewinnen, aber täglich verlieren kann. Sein Begrüßungshandschlag im Rathaus ist angenehm: kräftig genug, um Selbstbewusstsein auszustrahlen, aber auch kein Schraubstock. Der 53-Jährige ist es gewohnt, Hände zu schütteln: Er ist nicht nur Bürgermeister von Mechelen, sondern auch Fraktionsvorsitzender der flämischen Liberalen sowie ehemaliger Ministerpräsident von Flandern. Seine Politik bestehe aus zwei Beinen, so Somers: "Das 'rechte' Bein ist die Sicherheit. Wir haben sehr stark in die Polizei investiert. Außerdem gibt es keine Stadt in Belgien, in der es so viel Videoüberwachung gibt." Das "linke" Bein dagegen sei sein Integrationskonzept: "Wir können nicht zulassen, dass sich eine gesellschaftliche Gruppe abkapselt oder isoliert wird. Wir alle hier sind Mechelener – egal, ob wir hier geboren wurden oder in Marokko. Wir sind aber auch keine Flowerpower-Stadt", stellt Somers klar.

Insel der Seligen?

Der Vergleich mit den umliegenden Städten gibt ihm jedenfalls Recht: Den Anschlag auf das "Bataclan" in Paris verübten Terroristen aus Brüssel, einer der Ramblas-Attentäter von Barcelona war als Imam in Mechelens Nachbarstadt Vilvoorde aktiv, und erst im vergangenen Jahr wurden in Antwerpen neun Mitglieder einer Terrorzelle verhaftet. Mechelen hat diese Probleme nicht. Die Stadt gilt international als Vorzeigemodell erfolgreicher Integration von Einwanderern, aber auch von Geflüchteten. Islamistische Radikale gibt es hier nicht, keiner der 86.000 Einwohner ist in den Irak oder nach Syrien gereist, um dort zu kämpfen. Im nur halb so großen Vilvoorde waren es dagegen 28, in Brüssel gar 200 Personen. Dabei gelten in Mechelen extreme Bedingungen: Jedes zweite Kind hat einen Migrationshintergrund, 20 Prozent sind Muslime, insgesamt leben 138 verschiedene Nationen in der Stadt.

In den 90er-Jahren wurde Mechelen noch als "Schandfleck" Belgiens bezeichnet. Dazu kamen weitere Negativrekorde: dreckigste Stadt, Stadt mit der höchsten Kriminalitätsrate, Hochburg der rechtsextremen Partei "Vlaams Belang". Heute wird Mechelen "Flanderns Perle" genannt, der "Vlaams Belang" hat bei der letzten Wahl nur knapp neun Prozent der Stimmen erhalten. Die Stadt ist sauber, sicher und eine der am schnellsten wachsenden Städte Belgiens. Wie geht das?

Das gotische Rathaus von MechelenBild: DW/A. Breda

Schritt eins: Sprache lernen

Bürgermeister Somers glaubt daran, dass das pädagogische Konzept des Förderns und Forderns auf das gesellschaftliche Zusammenleben übertragbar ist: "Wer sich ernstgenommen fühlt, der leistet auch etwas." Ein solcher Ort, an dem etwas geleistet wird, ist die Busleyden-Berufsschule in Mechelen, ein unscheinbarer Zweckbau direkt neben der Kathedrale. Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund: 80 Prozent. Darunter 20 jugendliche Geflüchtete, die in drei Klassen nicht nur Flämisch lernen, sondern auch, wie sie sich in der belgischen Gesellschaft zurechtfinden. Wie gehen Männer und Frauen in Belgien miteinander um? Welche Städte gibt es in der Region? Wie fragt man nach dem Weg? Wer den Unterricht besucht, dem fällt als erstes auf, wie leer die Klassenzimmer wirken: In dem Raum fänden problemlos 35 Schüler Platz ­– anwesend sind aber nur acht Schüler und eine Lehrerin, denn die Teilnehmerzahl ist auf zwölf Schüler pro Klasse begrenzt. Der Unterricht zielt darauf ab, dass die Geflüchteten möglichst schnell am regulären Schulbetrieb teilnehmen können. Bei vier von fünf Schülern gelingt das schon nach einem Jahr – und das, obwohl einige von ihnen vorher nie eine Schule von innen gesehen haben.

Zusätzlich zum Unterricht bekommt jeder Geflüchteter am ersten Tag einen "Buddy" zugeteilt, der ihm dabei hilft, in der neuen Umgebung zurechtzukommen. "Für die Geflüchteten ist das sehr wichtig, weil sie so aus ihren bestehenden Communities kommen", erklärt Bürgermeister Somers das Konzept. Im vergangenen Jahr war Mechelen die einzige Gemeinde in Belgien, die freiwillig 250 Geflüchtete aufgenommen hat. "Die Regierung hat gesagt, dass wir niemanden aufnehmen müssen, weil hier bereits so viele Migranten leben. Aber wir haben das trotzdem gemacht. Vor 15 Jahren wäre das noch nicht gegangen, da hätten die Mechelener mich umgebracht."

Eine andere Mentalität

Fragt man Berufsschullehrer Kristoff Van Genechten, warum die Integration von Einwanderern und Flüchtlingen besser als in anderen Städten funktioniert, antwortet er nach etwa fünf Sekunden: "Es sind die Leute. Die Leute in Mechelen sind einfach offener." Die Antwort klingt dabei eher wie eine Frage als eine Aussage – so richtig scheint er es selbst nicht zu wissen. Dass es gut klappt, davon ist er aber überzeugt: "Wer sich hier wirklich integrieren möchte, der kann das auch tun."

Die Stadt leiste tatsächlich gute Arbeit. Als Beispiel nennt er ein geflüchtetes Mädchen, das erst vor drei Tagen nach Belgien gekommen sei. "Und heute sitzt sie schon bei uns im Unterricht und lernt die Sprache." In anderen Städten dauere das bis zu sechs Wochen.

Bürgermeister Bart Somers: "Gute Entscheidungen treffen und dann konsequent durchsetzen"Bild: DW/A. Breda

Mechelens "Ghettoschulen"

"Mechelen gefällt mir schon sehr gut", sagt auch der 15-jährige Rafig, der vor 18 Monaten aus Afghanistan nach Belgien geflüchtet ist. "Mich stört nur, dass ich noch nicht in den normalen Unterricht darf." Früher wäre Rafig vermutlich noch in eine der migrantischen "Ghettoschulen" von Mechelen gegangen, sobald er besser Flämisch gesprochen hätte. Heute gibt es keine "Ghettoschulen" mehr, denn Bürgermeister Somers hat sich dafür eingesetzt, dass die Schulen besser durchmischt sind. "Die Eltern waren erst besorgt, weil die Kinder auf diesen Schulen oft nicht sehr gut Flämisch gesprochen haben und die Unterrichtsqualität daher auch nicht besonders hoch war. Wir haben dann ein paar hundert Familien aus der Mittelschicht überzeugt, ihre Kinder auf so eine Schule zu schicken. Und im Gegenzug haben wir als Stadt garantiert, dass der Unterricht besser wird. Für die Kinder ist das natürlich auch gut, denn sie leben bereits in der Realität von morgen – der Vielfalt." In Mechelen kommt Somers' Ansatz gut an, seit 2001 wurde er drei Mal wiedergewählt, zuletzt mit 33 Prozent.

Investition in die Zukunft

Die Kosten, die durch das Integrationsprogramm entstehen, sieht der Bürgermeister als Investition in die Zukunft. Er finanziert die Investition, indem er an anderen Stellen spart. "Man muss einfach gute Entscheidungen treffen und konsequent umsetzten", heißt es dazu von ihm. So hat Somers die Personalkosten des städtischen Haushaltes von 65 auf 39 Prozent gesenkt, auch durch Kündigungen. Die Investition zahlt sich jedenfalls aus: Das mittlere Einkommen der Bevölkerung wächst überdurchschnittlich, gleichzeitig ist Mechelen die einzige belgische Stadt, in der die Armutsrate sinkt. Der Aufschwung trägt dazu bei, dass mehr und mehr einkommensstarke Familien nach Mechelen ziehen, was sich in gefüllten Steuerkassen bemerkbar macht. Zugute kommt das wiederum allen, die in Mechelen leben – egal, ob seit drei Tagen oder seit ihrer Geburt.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen