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PolitikUkraine

"Nur Kanonenfutter"? Geflohene Ukrainer fürchten Einberufung

Olena Perepadya | Mikhail Bushuev
22. Dezember 2023

Fast zwei Jahre nach Kriegsausbruch sind viele ukrainische Soldaten erschöpft. Plant die Armee nun, auch im Ausland lebende Ukrainer einzuziehen? Drei nach Deutschland geflohene junge Männer berichten von ihren Sorgen.

Werbung Sturmbrigade der ukrainischen Armee
Bild: DW

Es war ein Interview, das für Aufsehen sorgte: Der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umerov verkündete in Welt TV sowie den Zeitungen Bild und Politico, dass männliche Ukrainer im Alter zwischen 25 und 60 Jahren, die sich derzeit im Ausland befinden, in die Streitkräfte der Ukraine eingezogen werden sollen. Noch am selben Tag musste Umerows Ministerium Medienberichte dementieren, schon im kommenden Jahr würden Auslandsrekrutierungen anstehen: Es sei in dem Gespräch über die Rekrutierung im Allgemeinen gegangen und um Appelle an die wehrfähigen Menschen im Ausland, sich freiwillig für den Dienst in der Armee zu melden.

Der ukrainische Verteidigungsminister Rustem UmerowBild: Thomas Imo/photothek/picture alliance

Das Thema ist nicht neu: Schon im September gab es ähnlich klingende Verlautbarungen, die ebenfalls schnell korrigiert wurden. Die Regierung in Kiew weiß, wie schwer solch eine Initiative durchzusetzen wäre. Dennoch steht das Land vor der Aufgabe, 500.000 weitere Ukrainer in den Kriegsdienst einzuziehen. DW hat mehrere ukrainische Staatsbürger im wehrpflichtigen Alter gefragt, ob sie bereit wären, einer solchen "Einladung" aus der Ukraine in Deutschland nachzukommen.

"Warum sollte ich das tun?"

"Sie können mich nicht dazu zwingen", glaubt Sergei, der wie alle anderen Befragten seinen richtigen Namen nicht nennen will. "Ich glaube nicht, dass dies umsetzbar wäre", sagt der 35-Jährige, der sich seit Juli 2022 in Deutschland aufhält. "Aber es ist gar nicht mal so sehr das, was mich zurückhält. Ich frage mich vielmehr: Warum sollte ich das tun?"

Zu Anfang des Krieges sei er bereit gewesen, an die Front zu gehen. Er sei auch zweimal zum Rekrutierungsbüro gegangen, aber nicht eingezogen worden. Später habe er Zweifel bekommen, ob er wirklich dazu bereit sei und wofür er eigentlich kämpfen würde. Jetzt sei er in Deutschland und helfe, so gut er kann, "den Jungs an der Front, unter denen viele meiner Kameraden sind". Es tue ihm leid, dass sie dort seien, aber er selber werde ihnen sicherlich nicht folgen, sagt Sergei.

Soldaten der ukrainischen Armee am Bahnhof in LwiwBild: Yuriy Dyachyshyn/AFP via Getty Images

"Je länger ich in Deutschland bin, desto klarer wird für mich, wie korrupt der Staat ist, wie wenig Verantwortung dafür übernommen wird. Und das schmerzt mich sehr." Sergei geht fest davon aus, dass die Männer, die während des Krieges so wie er legal oder illegal aus der Ukraine ausgereist sind und Schutz erhalten haben, ihre Entscheidung gegen eine Kriegsteilnahme bereits getroffen hätten. "Unter ihnen wird sich sicher keiner freiwillig zum Wehrdienst melden, um an die Front geschickt zu werden."

"Ich habe selbst gekämpft"

"Ich habe gekämpft und andere gesehen, die Angst hatten", sagt Nikolai. Von März 2022 bis Juni 2023 kämpfte der 42-Jährige an der Front gegen die russische Armee, bevor er aus gesundheitlichen Gründen abgezogen wurde. Seit Juli 2023 lebt er in Deutschland. Für ihn sei die Initiative des ukrainischen Verteidigungsministers "völlig unverständlich", denn "in der Ukraine gibt es sehr viele Männer - sie sitzen in Bars, gehen spazieren, entspannen sich, trinken und zeigen offen, dass sie nicht an die Front geholt werden".

Diese Eindrücke hat Nikolai während eines Fronturlaubs in Charkiw gewonnen, einer nahe der russischen Grenze gelegenen Stadt in der Ostukraine. In anderen Städten, sagt er, zeige sich das gleiche Bild.

Kämpfe und Kälte setzen den Männern an der Front in der Ostukraine zuBild: Getty Images/Gaelle Girbes

"Wer in den Krieg ziehen wollte, hat die Waffen ergriffen und ist gegangen - freiwillig oder auf Befehl. Aber diejenigen, die ins Ausland gegangen sind, haben genau davor Angst. Sie wollen diesen Krieg nicht. Sie sind nicht feige, aber sie fürchten um ihr Leben, und diese Angst ist stärker als alles andere", erklärt Nikolai. Diese Männer einzuziehen sei sinnlos - sie würden der Ukraine nicht die Hilfe sein, die gebraucht werde.

"Menschen, die Angst haben, werden zur Last für die Soldaten", sagt Nikolai. "An der Front werden sie zu Kanonenfutter. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen." Zudem würden Auslandsrekrutierungen viel Geld kosten, Geld, das besser direkt in die Armee investiert werden sollte: "Um Drohnen, Waffen, Munition für diejenigen zu kaufen, die bereits an der Front sind."

"Mein Zuhause ist Deutschland"

Iwan ist 25 und studiert seit Jahren in Deutschland. "Ich habe einen ukrainischen Pass, aber mein Zuhause ist hier", sagt er. Als die russischen Truppen Ende Februar 2022 einmarschierten, war er zunächst in die Ukraine gereist. "Ich verspürte einen sehr starken Drang dazu. Doch dann traf ich auf eine ganze Welle ukrainischer Frauen und Kinder, die dringend Hilfe brauchten. Seitdem kümmere ich mich vor allem um sie: Menschen unterzubringen, zu versorgen, beim Ausfüllen von Dokumenten zu helfen, die Kinder in Schulen zu integrieren, sie zu Ärzten oder zu Ämtern zu begleiten. Auch heute noch rufen Dutzende von Menschen bei mir an, weil sie meine Hilfe brauchen", erzählt Iwan.

Sollte jemand aus dem Generalkonsulat der Ukraine mit einem Einzugsbescheid bei ihm anrufen, werde er natürlich gehen, sagt Iwan. "Aber im Moment verstehe ich nicht wirklich, wie ein solches Verfahren aussehen soll, denn ich befinde mich legal in Deutschland, habe eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung, studiere und arbeite hier." Iwan kann sich daher nicht vorstellen, "wer im ukrainischen Konsulat mich wie gegen meinen Willen zu etwas zwingen könnte".

Anwalt: Für Auslandsrekrutierungen fehlen Rechtsmechanismen

Sergej Sawinsky, Anwalt bei der in Kiew ansässigen Rechtsanwaltskanzlei Gracers,  erklärt auf DW-Anfrage, dass es derzeit keine Mechanismen gibt, um ukrainische Wehrpflichtige im Ausland einzuberufen: "Es fehlt der gesamte rechtliche Rahmen, da der Wehrpflichtige ordnungsgemäß benachrichtigt und zu einer militärärztlichen Untersuchung einberufen werden muss." Die Ukraine sei ein Rechtsstaat und es gelte das Prinzip der Rechtsklarheit, die Behörden würden nur innerhalb ihrer Befugnisse handeln.

Traumabewältigung für ukrainische Soldaten

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Die Rekrutierungsbüros in der Ukraine hätten schlicht und ergreifend "keine Befugnisse, Anweisungen in Deutschland, Polen oder anderswo zu erteilen, wo sich ukrainische Wehrpflichtige befinden", so Sawinsky. Dem Anwalt zufolge werde "die Mobilisierung von Ukrainern im Ausland erst möglich sein, wenn ein Mechanismus festgelegt wird, der insbesondere die Zusammenarbeit der Rekrutierungszentren mit den zuständigen Behörden anderer Länder bestimmen wird".

Deutsche Politiker sind uneins

Die deutsche Bundesregierung signalisierte zunächst, dass sie kein Interesse habe, an der Umsetzung eines solchen Mechanismus' zu arbeiten: "Dass wir nun Menschen gegen ihren Willen zu einer Wehrpflicht oder zu einem Kriegsdienst zwingen, wird nicht der Fall sein", erwiderte Bundesjustizminister Marco Buschmann auf das Interview des ukrainischen Verteidigungsministers Umerow. Der FDP-Politiker sagte gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa), es sei gut, dass Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland aufgenommen worden seien und arbeiten könnten.

Ganz anders wird das Thema in der Opposition kommentiert. Die Bundesregierung sollte der Ukraine dabei helfen, Menschen für den Wehrdienst oder den Heimatschutz zu rekrutieren, sagte der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter im Deutschlandfunk. Etwa 200.000 wehrfähige Ukrainer seien wegen des russischen Angriffskriegs nach Deutschland geflohen. Kiesewetter betonte, dass die Absicht nicht darin bestehe, sie abzuschieben, schloss jedoch nicht aus, das Bürgergeld für Personen zu kürzen, die sich der Unterstützung ihres Heimatlandes entzögen.