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Drastischer Anstieg türkischer Flüchtlinge

9. November 2022

Keine Meinungsfreiheit, dafür Inflation und Armut: Die politische und wirtschaftliche Lage in der Türkei ist angespannt. Immer mehr Türkinnen und Türken fliehen nach Deutschland. Die DW hat Zahlen der Bundespolizei.

LKW-Kontrolle an einem Grenzposten
Die Bundespolizei greift mehr türkische Geflüchtete auf: Autobahn-Grenzpunkt zwischen Österreich und DeutschlandBild: Peter Kneffel/dpa/picture alliance

An den deutschen Grenzen werden immer mehr Flüchtlinge und Schmuggler mit türkischer Staatsangehörigkeit aufgegriffen. Das belegen auch Daten der Bundespolizei, wie eine Antwort der Behörde an die Deutsche Welle zeigt.

Allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres haben Beamte der Bundespolizei 5362 unerlaubt eingereiste türkische Staatsangehörige an den deutschen Grenzen festgesetzt. Im gesamten vergangenen Jahr waren es 2531. Und im Jahr 2020, als Reisen aufgrund der Pandemie eingeschränkt wurden, waren es 1629 Personen.

Laut Bundespolizeidirektion München hat die Zahl türkischer Flüchtlinge von Januar bis September 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 254 Prozent zugenommen. Zu dem gleichen Zeitraum 2020 hat die Behörde sogar eine Steigerung von 368 Prozent verzeichnet.

Auch die Zahl der Schmuggler mit türkischem Pass sei angestiegen. In den ersten neun Monaten dieses Jahres wurden laut Bundespolizei insgesamt 185 Schleuser mit türkischer Staatsangehörigkeit entdeckt. Im gesamten Jahr 2021 waren es 111, im Jahr 2020 nur 56. 

Oft nicht das Land der Hoffnung: Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete in Berlin-SpandauBild: Frederic Kern/Geisler-Fotopress/picture alliance

Nach eigenen Angaben kommen die Flüchtlinge über die Balkanroute nach Deutschland. Die Kosten lägen pro Person zwischen 6000 und 8000 Euro. Warum machen sich immer mehr Menschen aus der Türkei auf die gefährliche Reise?

Das Geschäft mit der Hoffnung

In der Türkei verschlechtert sich sowohl die politische als auch die wirtschaftliche Lage  seit einem Jahr rapide. Jüngst verabschiedete die Regierungsmehrheit im Parlament ein Gesetz, das für die Verbreitung "falscher" oder "irreführender" Informationen Haftstrafen bis zu drei Jahren vorsieht. Ob eine Nachricht falsch oder irreführend ist, entscheiden regierungsnahe Staatsanwälte. Für Kritiker ist das sogenannte Desinformationsgesetz ein weiterer Versuch, die Meinungs- und Pressefreiheit auszuhebeln - insbesondere im Vorfeld der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Frühsommer 2023.

Erdogan-Regime schürt Gewalt gegen Ärzte

04:33

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Auch die Berufsverbände, die nicht auf Regierungslinie sind, geraten vermehrt ins Visier der türkischen Justiz. Ende Oktober wurde die Präsidentin des türkischen Ärzteverbandes (TTB) und Trägerin des Hessischen Friedenspreises, Sebnem Korur Fincanci, verhaftet. Vorwurf: Terrorpropaganda. Der TTB deckt Menschenrechtsverletzungen auf und kritisiert die Regierung mit deutlichen Worten.

Zudem macht auch die galoppierende Inflation im Land der Bevölkerung das Leben zunehmend schwerer. Nach offiziellen Angaben lag die Teuerungsrate im Oktober bei 85,5 Prozent. Laut ENAG, einer unabhängigen Gruppe von Wissenschaftlern, waren es sogar über 185 Prozent. Die Kaufkraft schwindet, viele Menschen können trotz Arbeit nicht einmal ihre Grundbedürfnisse befriedigen.

Insbesondere junge Menschen sind frustriert. Laut einer aktuellen Studie sehen über 70 Prozent der Menschen zwischen 17 und 30 Jahren keine Zukunft im Land. Fast 82 Prozent würden die Türkei verlassen und im Ausland leben, wenn sie könnten. Der Ärzteverband TTB gibt an, dass bis September rund 2000 Ärzte eine Arbeitsbescheinigung fürs Ausland beantragt haben. 

Festivalverbot in der Provinz

04:59

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Auch Dündar Kelloglu, Rechtsanwalt und Vorstandsmitglied des Flüchtlingsrats Niedersachsen, erkennt die zunehmende Fluchtbewegung aus der Türkei. "Insbesondere junge Flüchtlinge berichten uns, dass sie in ihrer Heimat keine Zukunftsperspektive sehen, keine Hoffnung haben", sagt der Jurist im Interview mit der DW. 

Sechs junge Türken in Rosenheim

Mitte September griff die Bundespolizei im bayerischen Rosenheim sechs junge Männer zwischen 18 und 25 Jahren auf, die für die Fahrt in einem LKW aus der Türkei bis nach Österreich etwa 8000 Euro pro Person gezahlt hatten. Den Polizisten sagten sie, dass sie Asyl beantragen und in Deutschland arbeiten und Geld verdienen wollten. Allerdings stellt die schlechte wirtschaftliche Lage im Herkunftsland keinen Asylgrund dar - doch das wussten die Männer nicht. Zu früheren Zeiten hatten die Schleuser die Flüchtlinge oft auf eine Begegnung mit der Polizei vorbereitet oder sie bis zu ihrer Abholung durch Verwandte begleitet. Das ist heute aber offenbar kaum noch der Fall. 

Die Bundestagsabgeordnete Clara Bünger, Die Linke, stellt regelmäßig Anfragen zu AsylzahlenBild: Ben Gross

Ein anderer Fall aus Kreuth macht noch deutlicher, wie unvorbereitet Schleuser die Flüchtenden einfach an deren Ziel aussetzen. Kreuth ist ein kleiner Ort an der österreichisch-deutschen Grenze, in dem Ortsfremde schnell auffallen. Und diese Gruppe bestand aus gleich elf Fremden, fünf Erwachsenen und sechs Kindern im Alter zwischen einem und 13 Jahren. Sie suchten Zuflucht in einem zu später Stunde noch geöffneten Schnellrestaurant. Ein Angestellter alarmierte die Polizei. Es waren Kurden aus der Türkei, die einfach direkt hinter der Grenze abgesetzt worden waren, stellten die Beamten später fest.

Asylanträge: Türken auf Platz 3 

Die Fluchtbewegung aus der Türkei schlägt sich auch in den Asylstatistiken nieder. Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) haben fast 16.000 türkische Schutzsuchende von Januar bis Oktober 2022 einen Asylantrag gestellt, die meisten als Erstantrag. Ein Zuwachs von 175,7 Prozent. Die Türkei ist nach Syrien und Afghanistan das drittstärkste Herkunftsland.

Für Clara Bünger, Bundestagsabgeordnete der Linken, die regelmäßige Anfragen zu Asylzahlen stellt, ist es keine Überraschung. Ihrer Meinung nach deute die Fluchtbewegung aus der Türkei darauf hin, dass sich die politische Situation für Gegner und Gegnerinnen der Regierung zuspitze. Die Repressionen nähmen zu, insbesondere für Kurden werde die Lage immer gefährlicher.

Experten wie Rechtsanwalt Dündar Kelloglu gehen davon aus, dass die Zahl der Flüchtlinge aus der Türkei weiter steigen werde, denn vor den Wahlen rechnet niemand mit einer Entspannung der politischen Lage. Auch eine Verbesserung der angeschlagenen Wirtschaft ist nicht in Sicht.

Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas
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