"Niemand kann es sich leisten, untätig zu bleiben"
Manasi Gopalakrishnan
21. Juli 2021
Wir müssen begreifen, dass die Klimakrise uns alle betreffen wird, sagt der indische Autor Amitav Ghosh - und das nicht erst in einer entfernten Zukunft.
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"Cli-fi": Die Klimakrise in der Literatur
Hier sind die katastrophalen Konsequenzen der Klimakrise längst Realität: im Science-Fiction-Genre "Cli-fi". Einige der besten Bücher stellen wir vor.
Bild: Suhrkamp Verlag
"Hunger der Gezeiten" von Amitav Ghosh (2004, Indien)
Dieser Roman des berühmten indischen Autors spielt im Golf von Bengalen östlich des indischen Subkontinents. In den Sundarbans, den größten Mangrovenwäldern der Erde, kämpfen Menschen ums Überleben - gegen Stürme, wilde Tiere und Überflutungen. Ghosh hat die westliche realistische Literatur dafür kritisiert, nicht angemessen mit der Klimakrise umzugehen. Das Buch ist bei Goldmann erschienen.
"Something New Under the Sun" von Alexandra Kleeman (2021, USA)
In Alexandra Kleemanns aktuellem Roman macht sich ein Schriftsteller auf den Weg nach Hollywood, um der Verfilmung einer seiner Bücher beizuwohnen. Dabei erlebt er nicht nur Dürre und verheerende Waldbrände, sondern stößt auch auf eine blass-blaue Blume, die wie durch ein Wunder den Flammen widersteht... Auf Deutsch ist von Kleemann zuletzt "A wie B und C" bei Kein & Aber erschienen.
"The High House" von Jessie Greengrass (2021, Großbritannien)
Francesca ist Wissenschaftlerin und Mutter - und sieht voraus, dass die Klimakrise zu schrecklichen Überflutungen führen wird. Deshalb transformiert sie ihr Ferienhaus in eine Art Arche für Selbstversorger. Familie, Gesellschaft, die menschliche Anpassungsfähigkeit - darum geht es in diesem Roman. Auf Deutsch ist zuletzt Greengrass' "Was wir voneinander wissen" bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.
"The New Wilderness" von Diane Cook (2020, USA)
Agnes leidet unter dem Smog in der Stadt. Ihre Mutter Bea entscheidet, mit ihr in die Wildnis zu ziehen - und sich dort einer Gemeinschaft von Jägern und Sammlern anzuschließen. Mit diesem Roman stand Diane Cook im Jahr 2020 auf der Longlist eines der wichtigsten englischsprachigen Literaturpreise, des Booker Prize. Ihre Bücher sind noch nicht auf Deutsch erschienen.
Bild: The Booker Prize
"Die Mauer" von John Lanchester (2019, Großbritannien)
Ein Inselstaat errichtet eine allumfassende Betonmauer an seiner Küste. Joseph Kavanagh soll sie vor den "Anderen" beschützen - Menschen, die vor dem steigenden Meeresspiegel auf der Flucht sind. Falls er versagt, erwartet ihn der Tod - oder die Verbannung auf das offene Meer, wo er als ein "Anderer" leben müsste. Ein Roman mit eindrücklichen Parallelen zu den Flüchtlingsbewegungen der Gegenwart.
Bild: Klett-Cotta Verlag
"Die Geschichte der Bienen" von Maja Lunde (2017, Norwegen)
In dem europaweiten Bestseller und Romandebüt von Maja Lunde widmet sich die norwegische Autorin dem Bienensterben - über drei verschiedene Kontinente und Zeitalter hinweg, vom England des 19. Jahrhunderts über die USA im Jahr 2007 bis hin zum Jahr 2098 in China. Maja Lunde zeigt in diesem Roman, dass die Natur - und die Bienen - für die Menschheit überlebenswichtig sind.
Bild: btb
"The Swan Book" von Alexis Wright (2013, Australien)
Ein junges indigenes Mädchen muss sich in einem Australien der Zukunft sowohl mit der Klimakrise als auch mit der Unterdrückung durch die Regierung auseinandersetzen. Alexis Wright, selbst indigene Waanyi-Schriftstellerin aus Australien, macht in diesem Roman deutlich, wie man Seite an Seite mit der Natur leben kann, anstatt sie auszubeuten. "The Swan Book" ist noch nicht auf Deutsch erschienen.
"Der Geschmack von Wasser" von Emmi Itäranta (2014, Finnland)
Die finnische Autorin inszeniert eine spannende Geschichte um den vielleicht bald begehrtesten Rohstoff der Welt: Wasser. Eine junge Frau im Nordeuropa der Zukunft muss sich entscheiden - teilt sie das wenige Wasser, das ihre Familie hat, mit Freunden und Nachbarn? Oder macht sie sich des "Wasserverbrechens" schuldig, auf das die Todesstrafe steht? Auf Deutsch erschienen bei dtv.
"Das Flugverhalten der Schmetterlinge" von Barbara Kingsolver (2014, USA)
Die Autorin Barbara Kingsolver ist studierte Biologin. Das macht sie sich zunutzen und behandelt in diesem Roman die Auswirkungen des Klimawandels auf das Flugverhalten von Schmetterlingen: ein ganzer Schwarm von Schmetterlingen strandet in Tennessee, statt den Weg nach Mexiko zu finden - und wird dort sterben, wenn ihnen niemand hilft, bevor der Winter einbricht.
"Die Steinernen Götter" von Jeanette Winterson (2007, Großbritannien)
In dieser postapokalyptischen Liebesgeschichte finden der "Robo sapiens" Spike und ihr Gefährte Billie heraus, dass die Vergangenheit sich wiederholt und die Menschheit nicht aus ihren Fehlern lernt. Im Roman einer der renommiertesten britischen Schriftstellerinnen der Gegenwart geht es um Krieg, neue Technologien und Korruption. Auf Deutsch ist der Roman im Berlin-Verlag erschienen.
"Sommer im Treibhaus" von George Turner (1991, Australien)
Dieser visionäre Science-Fiction-Roman spielt im Melbourne der 2030er-Jahre: der steigende Meeresspiegel bedroht sogar Wolkenkratzer, die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer. Autor George Turner begann erst mit 60 Jahren, Romane zu schreiben. "Sommer im Treibhaus" gewann den renommiertesten Science-Fiction-Preis der Welt, den Arthur C. Clarke-Award. Auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen.
Bild: Suhrkamp Verlag
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Für Amitav Ghosh ist die Natur ein wichtiger Teil des Geschichtenerzählens. Seine Romane spielen häufig in den Sundabans, den größten Mangrovenwädern der Welt, die im Golf von Bengalen östlich des indischen Subkontinents liegen: Von "Der Glaspalast" (2006) über "Hunger der Gezeiten" (2006) und "Das mohnrote Meer" (2009) bis hin zu seinem neusten Buch, "Jungle Nama" (2021).
Der indische Autor, dessen Familie aus Bangladesch stammt, hat New York zu seiner Heimat gemacht. Die Sundabans und ihr fragiles Ökosystem, wo heute noch Tiger und viele weitere seltene Arten von Tieren und Pflanzen leben, drohen von der globalen Erderwärmung zerstört zu werden.
Das mag einer der Gründe dafür sein, dass Ghosh die Klimakrise und die aus ihr resultierenden Naturkatastrophen nicht mit Gleichmut betrachtet: Gerade Überschwemmungen suchen regelmäßig die Länder auf und um den indischen Subkontinent heim. In einem Telefongespräch mit der Deutschen Welle äußert sich Amitav Ghosh zur Berichterstattung über die Flutkatastrophe in Deutschland: "Eine Frau sagte: 'Wissen Sie, man erwartet einfach nicht, dass so etwas in Deutschland passiert. Man kennt das nur aus ärmeren Ländern.'" Das zeige ihm, so der Autor, dass die Menschen noch immer nicht verstanden hätten, dass es den Klimawandel wirklich gibt.
Den Klimawandel gibt es wirklich
"Was hier auf gewisse Weise klar wird, ist, dass wir einer Zeit leben, in der wir unsere Erwartungen aus der Vergangenheit nicht mehr an die Gegenwart anlegen können", so Ghosh. "Zum Beispiel wird oft gesagt, dass Wohlstand und eine gute Infrastruktur Menschen vor schrecklichen Naturkatastrophen bewahren werden. Es zeigt sich immer mehr, dass das nicht der Fall ist." Dazu führt er noch ein weiteres Beispiel an: die Waldbrände im Norden Kaliforniens - auch das eine der wohlhabendsten Regionen der Welt.
Ghosh weist darauf hin, dass sich die Effekte des Klimawandels nicht auf Naturkatastrophen beschränken. Auch die kalifornischen Winzer, die sich darüber beschweren, dass der Rauch der Brände ihre Trauben angreift und ihnen so die Lebensgrundlage nimmt, seien vom Klimawandel betroffen. Die Geschichtenerzähler müssten dieser Krise Rechnung tragen, so der Schriftsteller. Seitdem er im Jahr 2016 das Sachbuch "Die große Verblendung. Der Klimawandel als das Undenkbare" veröffentlichte, beteiligt er sich öffentlich an der Debatte um die Klimakrise und die Rolle der Literatur.
Wenn das Leben die Kunst nachahmt
In den letzten Jahrzehnten haben sich viele wichtige Romane mit der Klimakrise beschäfigt. Ein früher Mahner war der australische Autor George Turner, dessen Roman "Sommer im Treibhaus" 1991 bei Suhrkamp erschien und den wichtigsten Science-Fiction-Preis der Welt gewann, den Arthur C. Clarke-Award. Seit dem Jahr 2000 sind unter den anglophonen Autoren auch Barbara Kingsolver mit "Das Flugverhalten der Schmetterlinge" (2014) und Margaret Atwood mit "Oryx and Crake" (2003) sowie dessen Nachfolger "Das Jahr der Flut" (2009) hinzugekommen, um nur einige zu nennen. Auch der Roman "Gun Island", den Amitav Ghosh 2019 veröffenlichte, gehört dazu. Er beschäftigt sich mit dem Klimawandel und der Bedrohung von Fischen durch chemische Abfälle in den Sundabans.
Trotzdem betrachtet Ghosh die aktuelle Literatur, die sich um die globale Erwärmung dreht, kritisch. Diese Art von Literatur wird häufig als "eco fiction", "climate fiction", oder "cli-fi" bezeichnet. Ihn stört daran, dass diese Romane Naturkatastrophen und die Klimakrise oft in der Zukunft verorten - dabei seien sie Phänomene der Gegenwart. "Ich habe wirklich ein Problem mit diesen Genres, mit dieser Art von Literatur", so Ghosh. "Darin wird unsere Realität so behandelt, als sei sie nicht wahr. Man projiziert sie in die Zukunft, man verwandelt sie in eine Fantasy-Geschichte."
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Hurrikane "Sandy" 2012
Auch hier führt der Autor ein Beispiel an: "Im Jahr 2012 suchte ein schrecklicher Wirbelsturm New York City heim, der Hurrikane 'Sandy'. Er zerstörte Teile der Stadt. Und hier leben so viele Schriftsteller, Dichter, Filmemacher, Künstler, aber niemand beschäftigt sich mit dem Hurrikane 'Sandy'. Stattdessen existieren Unmengen von Büchern über ein New York in einer fernen Zukunft, das überflutet worden ist." Ghosh wirft die Frage auf, ob das nicht darauf hinweist, dass die Menschen die Augen vor der Wahrheit verschließen.
"Wie auch die Überschwemmungen in Deutschland zeigen, sind solche Naturkatastrophen für die Menschen in unserer Gegenwart völlig überwältigend, auch überfordernd", so Ghosh. "Sie sagen, dass das unglaublich sei, dass sie es nicht glauben könnten, dass so etwas noch nie passiert sei. Und genau das ist es ja, worum es geht: Es geht darum, dass es nicht bloß unglaublich ist, sondern dass es real ist, dass es uns wirklich heute passiert."
Ghosh ist der Ansicht, dass der Westen die aktuelle Klimakrise verursacht hat: und zwar durch Kolonialismus, die Industrialisierung und die daraus resultierende Erschaffung einer weltweiten Konsumgesellschaft, die stets wirtschaftliches Wachstum anstrebt. Diese Entwicklungen hätten es den westlichen Industriegesellschaften ermöglicht, die internationale Politik zu dominieren und andere Kulturen - zum Beispiel im globalen Süden - zu missachten. "Der Westen ist isoliert, durch seine unglaubliche Arroganz und seine Überheblichkeit. Er muss wirklich damit anfangen, vom Rest der Welt zu lernen", sagt der Autor.
Die "Arroganz" des Westens
In Bangladesch finden jedes Jahr schwere Überschwemmungen statt, wenn der Padma - der Ganges in Bangladesch - während der Monsunregefälle über seine Ufer tritt. "Aber nur sehr wenige Menschen sterben dabei, denn sie wissen, wie gefährlich Überschwemmungen sind." Durch die immer häufigeren Naturkatastrophen sei inzwischen klar geworden, dass die gesamte Menschheit im selben Boot sitzt, was die Klimakrise betrifft, fährt Ghosh fort. Seiner Meinung nach würden viele Staaten dieser Wahrheit aber noch nicht ins Auge sehen.
"Ich hoffe, dass eine Lektion aus dieser schrecklichen Tragödie in Deutschland gezogen wird", sagt der Autor. "Niemand kann es sich leisten, untätig zu bleiben. Alle Menschen auf diesem Planeten sehen sich derselben Katastrophe gegenüber. Man kann nicht erwarten, dass man geschützt ist, nur weil man in einem wohlhabenden Land lebt."
Schwere Überschwemmungen in Bangladesch
Nach lang anhaltendem Monsunregen stehen weite Teile Bangladeschs unter Wasser. Der Fotograf Mortuza Rashed hat die Naturkatastrophe für die DW dokumentiert.
Bild: DW/M. Rashed
Zerstörerisches Hochwasser
Jedes Jahr zwischen Juni und September wird der südasiatische Subkontinent von Starkregen und Hochwasser heimgesucht. Das hilft zwar vielerorts der Landwirtschaft, verursacht aber auch große Schäden, wie hier im Bezirk Sariakandi im Norden Bangladeschs.
Bild: DW/M. Rashed
Wasser, soweit das Auge reicht
Bogra Sariakandi hat 300.000 Einwohner und liegt am Fluss Brahmaputra. Dieser entspringt in der tibetischen Hochebene und fließt durch Indien nach Bangladesch. Bei Bogra Sariakandi ist der Fluss bis zu drei Kilometer breit. Fischer wohnen auf zahlreichen Flussinseln, die nun zu versinken drohen.
Bild: DW/M. Rashed
Millionen Menschen bedroht
Nach Auskunft des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) sind vier Millionen Menschen akut in ihrer Existenz bedroht. Nach Behördenangaben sind bislang aber nur 20.000 Menschen aus dem Katastrophengebiet geflohen. Die meisten entscheiden sich, wie diese Frau auf dem Bild, zu Hause auszuharren, solange es möglich ist.
Bild: DW/M. Rashed
"Schlimmste Überschwemmung seit zehn Jahren"
"Das dürfte die schlimmste Überschwemmung seit zehn Jahren sein", sagt der Leiter des Katastrophenschutzes Arifuzzaman Bhuiyan. Viele Häuser sind praktisch unbewohnbar. Selbst speziell zum Schutz vor Überschwemmungen gebaute Räume stehen unter Wasser.
Bild: DW/M. Rashed
Suche nach Trinkwasser
Viele Städte und Dörfer sind von der Außenwelt abgeschnitten. Die Trinkwasserversorgung ist gefährdet. Die Bewohner müssen lange suchen, um einen Brunnen mit funktionierender Pumpe zu finden.
Bild: DW/M. Rashed
Prekäre Rettung von Hab und Gut
Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von rund 1800 Dollar im Jahr zählt Bangladesch zu den ärmsten Staaten der Welt.
Bild: Mortuza Rashed
Internationale Hilfe
Viele Hilfsorganisationen sind trotz Coronakrise in Bangladesch engagiert. Dabei geht es nicht nur um Soforthilfe: So ist das Deutsche Rote Kreuz an einem Projekt beteiligt, um durch die Kombination von Wettervorhersagen mit anderen Risikodaten zu ermitteln, welche Regionen potenziell besonders betroffen sind. Das Projekt wird vom Auswärtigen Amt gefördert.