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PolitikEuropa

Oberrabbiner der Ukraine: "Putin hat alle gegen sich"

Alexander Sawizkij
13. März 2022

Der Oberrabbiner der Ukraine, Moshe Reuven Azman, appelliert im DW-Interview an die Russen, den Krieg zu beenden. Er berichtet über das Leben der jüdischen Gemeinde seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine.

Ukraine Kiew | Explosion am Fernsehturm
Russischer Raketenangriff auf den Kiewer Fernsehturm, in unmittelbarer Nähe des Holocaust-Mahnmals in Babyn JarBild: UKRAINIAN INTERIOR MINISTRY PRESS SERVICES/AFP

Moshe Reuven Azman ist Oberrabbiner der Brodsky-Synagoge in Kiew und Vorsitzender des landesweiten Kongresses jüdischer chassidischer Religionsgemeinschaften in der Ukraine. 2005 wurde er von Vertretern aller Regionen zum Oberrabbiner des Landes gewählt. Der Vater von elf Kindern wandte sich von Kiew aus in einer Videoansprache an die Russen. Darin wirft er dem russischen Präsidenten Wladimir Putin Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine vor und fordert ein Ende des Krieges. Die DW hat den Oberrabbiner nach seinen Motiven, nach den Reaktionen auf seinen Appell und nach seiner Einschätzung der Geschehnisse in der Ukraine gefragt.

DW: Als eines der Ziele der großangelegten militärischen Invasion Russlands in der Ukraine nennt Moskau eine "Entnazifizierung". Was sagen Sie dazu?

Moshe Reuven Azman: Gegen wen richtet sich denn die "Entnazifizierung"? Gegen den Präsidenten Selenskyj, der Jude ist? Oder gegen den Oppositionschef Rabinowitsch? Diesen Blödsinn kann nur jemand glauben, der der Gehirnwäsche des Fernsehens glaubt, welches allerlei Unsinn verbreitet. In der Ukraine gibt es überhaupt gar keinen Nazismus, nicht einmal nationalistische Parteien sind ins Parlament eingezogen. Kein normaler Mensch glaubt diese Spinnereien. Moskau braucht einfach einen Vorwand, um seine imperialen Ambitionen zu befriedigen.

Wie bewerten Sie den russischen Luftangriff auf den Fernsehturm in Kiew, durch den auch die Gedenkstätte "Babyn Jar" in Mitleidenschaft gezogen wurde?

Das ist ein Zeichen! Ich denke, dass ist eine Warnung von Oben davor, zu was dieser Krieg führen kann. Noch ist es Gott sei Dank nicht zu Strafexpeditionen gekommen, aber dass schon friedliche Bewohner erschossen werden, auch Autos und Häuser beschossen werden, das sind meiner Meinung nach schon Kriegsverbrechen.

Oberrabbiner Moshe Reuven Azman verurteilt Russlands Krieg gegen die UkraineBild: Anna Marchenko/dpa/picture alliance

Erwarten Sie Hilfe von jüdischen Gemeinden im Ausland?

Russland und Putin haben das ukrainische und das jüdische Volk, die ganze Welt gegen sich vereint. Heute beten alle sowohl für die Ukrainer als auch für die Juden. Wir sind alle Opfer derselben Tragödie geworden. Daher bitte ich weiter um Gebete und um Protest, ich bitte Sie, alles in Ihrer Kraft stehende zu tun. Den Juden Russlands habe ich bereits gesagt, dass sie all dies tun sollen. Mir ist klar, dass einige von ihnen unter "Gehirnwäsche" stehen, andere haben Angst. Ich selbst bin in Leningrad geboren, in der Sowjetunion, als es noch den KGB gab. Aber ich hatte keine Angst. Ich wurde wegen meiner Aktivitäten zum Verhör zum KGB gebracht. Auch jetzt muss jeder für sich entscheiden, ob er mit dem Guten oder dem Bösen ist, ob er sich an Verbrechen beteiligt. Wenn sich in Russland alle klar positioniert hätten, dann hätte man die ganze Junta schon längst weggefegt.

Wie waren die Reaktionen auf Ihre Videoansprache?

Ich habe mich von ganzem Herzen an die Juden Russlands gewandt, an die Russen, an diejenigen, von denen abhängt, wie dieser Krieg ausgeht. Ich habe nicht vom Blatt abgelesen. Ich habe sie daran erinnert, dass sie nicht einfach vor dem Fernseher sitzen und grinsen können, dass sie Verantwortung dafür werden tragen müssen, was mit ihrer stillschweigenden oder nicht stillschweigenden Zustimmung passiert. Mich haben sowohl Juden als auch Russen aus Russland angerufen. Einige sagten, ihnen seien die Augen aufgegangen, andere sagten, sie hätten längst gewusst, was vor sich gehe, hätten aber Angst, darüber zu sprechen. Ich bin glücklich, dass ich mit meinem aufrichtigen Appell Menschen die Augen öffnen konnte. Hier in der Ukraine sagt man mir, ich habe die Menschen vor Ort emotional stark unterstützt.

Was bereitet der jüdischen Gemeinde in der Ukraine jetzt während des Krieges am meisten Sorge?

Wir haben ein Callcenter eingerichtet, das Anrufe hilfsbedürftiger Menschen entgegennimmt. Wir organisieren Busse, um Menschen nach Israel und Europa an sichere Orte zu bringen. Jüdische Männer, die wehrpflichtig sind, verspüren die Notwendigkeit, die Ukraine zu verteidigen. Sie ziehen in den Krieg, gehen in die Streitkräfte oder zur Territorialverteidigung. Ich erhalte jeden Tag Tausende Anfragen. Wir versuchen, Menschen zu retten. Wir bringen Nahrung und Medikamente zu den Menschen. Es gibt viele ältere Menschen, die sich nicht mehr alleine bewegen können oder bettlägerig sind. Unter ihnen sind Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs wie durch ein Wunder dem Holocaust entkommen waren, und die jetzt gezwungen waren, aus Luhansk und anderen Städten im Donbass zu fliehen. Das ist für sie schon das dritte und sogar vierte Mal im Leben. Sie sind schockiert darüber, dass die russische Armee, die einst über die Nazis siegte, jetzt sie bombardiert, ihre Häuser zerstört und friedliche Ukrainer tötet.

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