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Politik

Odessa: Ukrainische Stadt mit russischen Wurzeln

25. März 2022

Bislang ist die kosmopolitische Hafenstadt am Schwarzen Meer von den Kämpfen in der Ukraine weitgehend verschont geblieben. Aber Odessa ist für Russen wie für Ukrainer eine Stadt mit besonderer Bedeutung.

Ukraine-Krieg | Schutz von Skulpturen und Monumenten in Odessa
Sandsäcke schützen das Denkmal des ehemaligen russischen Gouverneurs von Odessa, Herzog Richelieu (1766-1822)Bild: ALEXANDROS AVRAMIDIS/REUTERS

Bis zur Landesgrenze sind es von Odessa aus nur 50 Kilometer. Rund eine Stunde dauert die Fahrt mit dem Auto nach Palanca, einem Dorf im südöstlichsten Zipfel der Republik Moldau. Rund 350.000 geflüchtete Ukrainer hat das kleine südosteuropäische Land bislang aufgenommen - viele von ihnen dürften aus Odessa gekommen sein.

Vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine zählte die Hafenstadt am Schwarzen Meer rund eine Million Einwohner. Wie viele jetzt noch ausharren angesichts eines drohenden Angriffs russischer Truppen, ist nicht bekannt. Doch diejenigen, die geblieben sind, wappnen sich und verbarrikadieren ihre Stadt. Sie schmücken ihre Stadt mit blau-gelben Fahnen, füllen Sandsäcke und bauen Panzersperren.

Odessa wappnet sich gegen russische Offensive

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Strategisch und wirtschaftlich bedeutend

Die nach Kiew und Charkiw drittgrößte Stadt der Ukraine hat für das Land eine besondere Bedeutung. Seit der Annexion der Krim 2014 durch Russland beherbergt Odessa den Hauptstützpunkt der ukrainischen Seestreitkräfte. An der Nordwestküste des Schwarzen Meeres gelegen, besitzt die Stadt auch den größten Güterhafen des Landes. Fast die Hälfte aller Ein- und Ausfuhren des Landes werden hier abgewickelt.

Zu den wichtigsten Exportgütern zählen neben Getreide auch Eisen und Stahl sowie einige chemische Produkte. Bislang kamen auch zahlreiche Hilfsgüter und Lebensmittel über den Hafen von Odessa ins Land. Doch seit die russische Armee immer weiter entlang der Schwarzmeerküste nach Westen vorrückt, sind die Im- und Exporte über den Hafen praktisch zum Erliegen gekommen.

Am Güterhafen von Odessa stehen die meisten Kräne stillBild: imago images/unkas_photo

Odessa ist die wirtschaftliche Lebensader der Ukraine und ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Viele Bahnlinien ins Landesinnere laufen hier zusammen, auch die Sarmatia-Ölpipeline, über die unter anderem Polen und das Baltikum unter Umgehung Russlands mit Öl aus dem Kaspischen Meer beliefert werden, nimmt hier ihren Anfang. Sollten die russischen Truppen Odessa einnehmen, wäre das jedoch nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht ein extrem schwerer Schlag für die Ukraine. Auch symbolisch besitzt die Stadt für beide Seiten eine große Bedeutung.

Odessas russische Ursprünge

Gegründet wurde Odessa im Jahr 1794 auf Anweisung der russischen Zarin Katharina der Großen. Nur zwei Jahre zuvor war die gesamte Region nach Ende des sechsten russisch-türkischen Krieges an Moskau gefallen. Die Zarin entschied, einen leistungsfähigen Militärhafen bauen zu lassen, auch um das Gebiet der gesamten nördlichen Schwarzmeerküste abzusichern, das in den Jahrzehnten zuvor an das Russische Zarenreich gefallen war und den Namen "Neurussland" bekam. "Odessa war vor 1917 Hauptstadt dieses Gebildes Neurussland", erklärt Guido Hausmann, der Leiter des Arbeitsbereichs Geschichte am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg. "Dieses ganze Neurussland-Projekt ist eng mit Odessa verknüpft." Für jemanden wie Wladimir Putin, der Russland nach eigenen Worten wieder zu alter Stärke zurückführen will, sei dies sicher von Bedeutung, meint Hausmann. Denn "es steht für das expandierende Zarenreich, für das Russland, das zu einer Großmacht wird und auf das Schwarze Meer und den östlichen Mittelmeerraum ausgreift".

Odessa erlebte im 19. Jahrhundert seine Blütezeit, entwickelte sich zu einer kosmopolitischen Hafenstadt mit Einwohnern aus weit über 100 Nationen und zu einem bedeutenden kulturellen und wissenschaftlichen Zentrum mit eigenem Theater, wissenschaftlichen Gesellschaften und mehreren Universitäten. Und es wurde ein wichtiges Zentrum jüdischen Lebens im Russischen Reich - zeitweise waren bis zu 30 Prozent der Bevölkerung Odessas jüdischen Glaubens. "Hier atmet man ganz Europa", soll der berühmte russische Nationaldichter Alexander Puschkin einst über Odessa gesagt haben.

Das 1809 eröffnete Opernhaus von Odessa hat in Friedenszeiten regelmäßig russische Opern und Ballettaufführungen im Programm. Berühmte russische Komponisten wie Pjotr Tschaikowski oder Sergei Rachmaninow waren hier tätig.Bild: ZDF

Dennoch: Aufgrund seiner Siedlungsgeschichte blieb Odessa lange Zeit russisch geprägt. Puschkin wie auch Katharina die Große besitzen bis heute eigene Denkmäler in der Stadt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, sagt Guido Hausmann, habe sich das Gesicht der Stadt verändert - "vor allem durch die Urbanisierung der 1960er Jahre. Dadurch sind sehr viele Ukrainer aus den umliegenden Dörfern nach Odessa gekommen. Deshalb gibt es heute auch viel ukrainische Bevölkerung in der Stadt."

Stadt der Widersprüche

Noch 2001 gaben rund 65 Prozent der Einwohner Odessas Russisch als Muttersprache an, rund 90 Prozent der Menschen sprechen es im Alltag. Und doch, erzählt Osteuropahistoriker Hausmann, habe man nach dem Euromaidan, den proeuropäischen Protesten des Jahres 2014, auf den Straßen der Stadt ukrainische Fahnen und Graffitis sehen können. "Das gab es vorher nicht", sagt Hausmann, der Odessa selbst viele Male besucht hat und auch heute noch Kontakte in die Stadt besitzt. "Insofern ist Odessa heute in viel größerem Maße ein Teil der Ukraine als noch vor einigen Jahrzehnten."

Guido Hausmann ist Arbeitsbereichsleiter Geschichte am Regensburger Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS).Bild: IOS Regensburg/neverflash.com

Dass dieser Wandel nicht reibungslos vonstatten lief, zeigte sich noch im selben Jahr. Als Russland die Halbinsel Krim annektierte, kam es in Odessa zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen prorussischen Protestlern und Anhängern der pro-europäischen Maidan-Bewegung. 48 Menschen starben, mehr als 200 wurden verletzt. "Man kann nicht ohne Schaudern an die schreckliche Tragödie von Odessa zurückdenken," erklärte Wladimir Putin in seiner Rede vom 21. Februar, mit der er den ideologischen Grundstein für die drei Tage später begonnene russische Invasion der Ukraine legte: "Wir werden alles tun, um die Verantwortlichen hierfür zu bestrafen, um sie zu finden und vor Gericht zu stellen". Russlands Präsident ist also auch getrieben von der Vorstellung, das seiner Meinung nach ur-"russische" Odessa aus ukrainischer Hand zu "befreien".

Pro-ukrainische Demonstration in Odessa am Vorabend der russischen Invasion in der UkraineBild: Emilio Morenatti/AP Photo/picture alliance

Odessas Russen wenden sich ab

Guido Hausmann ist davon überzeugt, dass die überwiegende Mehrheit der russischsprachigen Einwohner Odessas dies gar nicht will. "Allein der Gebrauch der russischen Sprache bedeutet nicht, dass man auch politisch pro-russisch ist", erklärt Hausmann. Es gebe sicher eine enge Verbundenheit zur russischen Sprache und Kultur. Politisch jedoch habe sich seit 2014 sehr viel verändert. Viele Bewohner der weltoffenen Hafenstadt wandten sich von Russland ab, sind abgeschreckt von den drakonischen Gesetzen, dem Verbot der freien Meinungsäußerung und der immer autoritäreren russischen Führung.

Und von der rücksichtslosen Bombardierung von Städten wie Mariupol durch die russische Armee. "Mittlerweile", schätzt Hausmann, "stehen 80 bis 90 Prozent der Einwohner Odessas loyal zur Ukraine. Dass die Menschen massenhaft auf die Straßen gehen und russische Fahnen schwenken, wenn Putins Armee vorrückt, ist jedenfalls sicher nicht zu erwarten."

Putin selbst dürfte dies nicht sonderlich interessieren. Für ihn zählt etwas anderes. Mit Einnahme der Stadt wäre praktisch die gesamte Schwarzmeerküste in russischer Hand. Für die Ukraine wären wichtige Nachschubwege versperrt. Und es wären dann nur noch 50 Kilometer bis zur Republik Moldau, die ihrerseits mit Transnistrien einen großen abtrünnigen pro-russischen Landesteil besitzt. Nicht nur in der Ukraine, auch in der moldauischen Hauptstadt Chisinau wird man die kommenden Tage daher mit großer Sorge beobachten.

Thomas Latschan Langjähriger Autor und Redakteur für Themen internationaler Politik