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Konflikte

"Ohne uns würde Hongkong nicht überleben"

Jessica Volz
30. Juli 2019

Während die anti-chinesische Haltung der Hongkonger in den Protesten lauter wird, sind die Meinungen der Festland-Chinesen weniger bekannt. Die DW hat sich in den Online-Foren umgesehen.

Hongkong Proteste
Hongkonger zeigen während den Protesten eine klare Meinung: Hongkong ist nicht ChinaBild: Imago Images/R. Peters

Es sind dramatische Bilder: Massenproteste zwischen Hongkongs Wolkenkratzern, maskierte Protestanten stürmen das Parlamentsgebäude, pro-demokratische Parolen hallen durch die Finanzmetropole. Die Botschaft ist klar: "Hongkong ist nicht China" schreien einem die roten Großbuchstaben auf den Protestplakaten entgegen.

Doch wie sieht es eigentlich auf der anderen Seite aus? Was denken die Festlandchinesen über Hongkong?

Das ist gar nicht so einfach herauszufinden, da über die Massendemonstrationen in den chinesischen Staatsmedien bis vor kurzem kaum berichtet wurde. Aber in Plattformen wie Weibo und Wechat findet man durchaus Meinungsäußerungen über die Proteste in Hongkong.  

Nachbarstadt Shenzhen: Ihr schnelles Wachstum hat die wirtschaftliche Stellung Hongkongs relativiertBild: Imago/Xinhua

Dabei findet man drei Hauptmeinungen. Die erste lautet:

"Hongkong hat viel finanzielle Hilfe aus China erhalten, warum sind sie noch immer nicht zufrieden? Hongkong würde ohne China wirtschaftlich nicht überleben."

Tatsächlich spielte Hongkong, als es 1997 an China übergeben wurde, eine zentrale Rolle für die chinesische Exportindustrie. Fast die Hälfte des chinesischen Handels wurde über Hongkong abgewickelt. Heute sind es weniger als zwölf Prozent. "All diese Abhängigkeiten haben sich als Folge des rasanten Wirtschaftswachstums und des Strukturwandels Chinas zu Ungunsten Hongkongs gedreht", erklärt Markus Taube, Wirtschaftswissenschaftler von der Universität Duisburg-Essen. "Die chinesischen Standorte Shenzhen und Shanghai sind so stark, dass China sich inzwischen ein schwaches Hongkong leisten kann. Vor 30 oder 20 Jahren wäre ein schwaches Hongkong für China eine Katastrophe gewesen", meint der Experte für die Wirtschaft Chinas.

China stützte während der Wirtschaftskrise 2007 die Konjunktur Hongkongs mit viel Geld. Der Wirtschaftsexperte sieht diese Transferleistungen jedoch nicht als besonders bemerkenswerte finanzielle Hilfe an. "Das hat mit Altruismus gar nichts zu tun", sagt Taube. Schließlich sei die Geldspritze während der Krise getätigt worden, um Hongkong als eines der zentralen Finanzdienstleistungszentren für die chinesische Volkswirtschaft zu stabilisieren.

Die Behauptung, dass Hongkong sich trotz vielfältiger finanzieller Hilfe aus China undankbar zeige, sei das Ergebnis einer verzerrten Wahrnehmung. Dabei werde die Bedeutung Hongkongs für die Volksrepublik China in der Vergangenheit komplett ausgeblendet. "Wenn man sich die Geschichte der letzten 40 Jahre anschaut, dann ist es wohl eindeutig, dass China mehr von Hongkong profitiert hat als umgekehrt", betont Markus Taube.

Koloniales Symbol als bewusste Provokation in Richtung Peking Bild: Getty Images/AFP/V. Prakash

Die zweite oft anzutreffende Meinung in den sozialen Medien des Festlandes lautet:

"Die Bewohner Hongkongs hatten in der Kolonialzeit zwar einen Rechtsstaat, aber ebenfalls keine Selbstbestimmung. Warum wollen sie die jetzt?"

Zwar hätten die Hongkonger unter der britischen Kolonialherrschaft keine Selbstbestimmung, dafür aber ein sehr positives Lebensgefühl gehabt, weil Hongkong als Tor zu China unglaublich prosperierte, erklärt der Journalist und DW-Kolumnist Frank Sieren. Die Hongkonger waren privilegiert. Inzwischen habe sich ihre Machtposition stark relativiert. "Sie spüren jeden Tag, dass die Bedeutung ihrer Stadt schwindet und gleichzeitig Pekings Durchgriffsmöglichkeiten immer größer werden." Die Hoffnung vieler Hongkonger auf eine Ausweitung der Wahldemokratie - wie im Hongkonger Grundgesetz, dem Basic Law, vorgesehen - habe sich bislang nicht erfüllt, stellt der Sinologe und Politologe Thomas Heberer fest. 

Nicht ohne Grund war in der gemeinsamen chinesisch-britischen Erklärung von 1984 die Rede von einem "hohen Grad an Autonomie" und davon, dass "Hongkong von Hongkongern regiert" würde. Mit diesen Formulierungen wollte Peking die Einwohner der Noch-Kolonie beruhigen und verhindern, dass sie angesichts der bevorstehenden Rückkehr unter kommunistische Oberherrschaft massenhaft die Koffer packen würden.

Wirtschaftsexperte Taube sieht ein Grundproblem in zwei verschiedenen Wertesystemen, die nicht miteinander kompatibel seien. Die Hongkonger seien anders sozialisiert und hätten "ein viel stärkeres Bedürfnis und Interesse an demokratischen Strukturen, als es die chinesische Bevölkerung in der Masse nachvollziehen kann", erklärt Taube. Der Wert einer Demokratie und die Ängste, die Hongkonger vor den autokratischen Strukturen Chinas haben, seien vielen Festlandchinesen in ihrer eigenen Informations- und Propagandablase überhaupt nicht klar.

Sechs Quadratmeter große "Käfigzimmer" sind extreme Beispiele für die Wohnungsnot in HongkongBild: Reuters/T. Peter

Die dritte häufig geäußerte Meinung lautet: 

"Die Hongkonger sind nur sauer, weil die Wohlstandslücke nicht mehr so groß ist wie 1997. Das Überlegenheitsgefühl der Hongkonger existiert nicht mehr. Nun haben die Chinesen die stärkste Kaufkraft."

Zwar ist Hongkong noch immer reicher als China, doch die Lücke wird kleiner. Die Wirtschaftskraft pro Kopf der Hongkonger ist zwar heute immer noch knapp vier Mal höher als in China. Aber 1997 waren die Hongkonger ungefähr elf Mal reicher.                          

Dass die schwindenden Wohlstandsunterschiede für sich genommen der Grund für die Wut der Hongkonger sein sollen, hält der Wirtschaftsexperte Markus Taube für abwegig. Aber das rapide Wirtschaftswachstum Chinas habe dazu geführt, dass die enorme Kaufkraft vieler chinesischer Konsumenten die Preise in Hongkong in die Höhe getrieben hat. Ein Beispiel dafür sind die horrenden Immobilienpreise der flächenmäßig kleinen Metropole, die sich seit 2012 mehr als verdoppelt haben.

Frank Sieren sieht die Schuld für den angespannten Wohnungsmarkt aber nicht bei den Chinesen vom Festland. Hongkong könnte den Immobilienmarkt stärker regulieren. "Die Stadt ist reich genug, dass jeder, der dort lebt, anständig leben kann. Dass das nicht so ist, liegt nicht an Peking."

Chinas Staatswappen von Aktivisten beschmiert - Angriff auf die Nation?Bild: AFP/V. Prakash

"Wechselseitige Kommunikationsstörung" 

Die in den sozialen Medien des Festlands zirkulierenden Meinungen zu Hongkong und seinen Einwohnern zeigen also keine besonders guten Kenntnisse der Geschichte von Festland und Hongkong und der Denkweise der Hongkonger Bevölkerung. Hinzu kommt die Beeinflussung durch die staatlichen Medien: "Durch die gegenwärtige Berichterstattung zu den Protesten wird das Gefühl bei den Festlandchinesen geweckt, dass die Hongkonger gar nicht zu ihnen gehören wollen und die chinesische Nation möglicherweise ablehnen", sagt Thomas Heberer. Und tatsächlich hat ja die chinesische Abwehr der Demokratiebestrebungen in Hongkong der Distanzierung vom Festland und von Xi Jinpings Vorstellung der "einen großen chinesischen Nation"  Vorschub geleistet. 

China-Kenner Sieren sieht eine wechselseitige Kommunikationsstörung am Werk, die nicht allein vom Festland ausgeht: "Es war vielleicht ein Fehler, nicht mehr miteinander zu reden, sondern nur auf den jeweiligen Schwächen herumzureiten, statt anzuerkennen, dass man zusammen stärker ist." Es sei wie ein festgefahrener Ehekrach, der eine vernünftige Kommunikation erschwere. "Da gab es erst auf der Festlandsseite Minderwertigkeitsgefühle und in Hongkong ein wenig zu viel Überheblichkeit", so Sieren, "Inzwischen ist es umgekehrt." Und immer noch spräche man mehr übereinander als miteinander. Die einseitige Berichterstattung des Festlandes trage jedenfalls nicht zur Entschärfung des Problems bei.

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