Kanzler Olaf Scholz reist nach Paris
9. Dezember 2021Als die Moderatorin Olaf Scholz in einer Fernsehdebatte fragte, wohin seine erste Staatsreise als Kanzler gehen würde, zweifelte er keine Sekunde: "Nach Paris". Nun passiert es tatsächlich: Olaf Scholz, Deutschlands neuer Kanzler, reist gleich am dritten Tag seiner Amtszeit zum wichtigsten europäischen Partner der Bundesrepublik. Ins Nachbarland. Nach Frankreich.
Doch Olaf Scholz ist nicht zum ersten Mal im Élysée-Palast. Dort hat man ihn als Merkels Vize-Kanzler und Finanzminister, als Partner seines französischen Pendants Bruno Le Maire noch gut in Erinnerung. Die beiden haben die Entstehung des EU-Wiederaufbaufonds im Zuge der COVID-Pandemie vorangetrieben. "Bei uns steht Scholz vor allem für Kontinuität und Berechenbarkeit," sagt Christophe Arend, Abgeordneter in der Regierungspartei (LREM).
In Frankreich liest man das Ampel-Programm mit Freude
Auch inhaltlich ist man Olaf Scholz wohlgesonnen. "Ich glaube, dass Paris den Koalitionsvertrag, gerade den Europa- und auch den außen- und sicherheitspolitischen Teil mit großer Freude gelesen haben wird,” sagt Ronja Kempin, Frankreich-Expertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), im DW-Interview. Vor allem, weil die neue deutsche Regierung ein "strategisch autonomes Europa" aufbauen will. Also ein Europa, das in der Lage ist, einstimmig außen- und sicherheitspolitisch aufzutreten. Dies ist ein langjähriges Anliegen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, das bisher auf Vorbehalte in Berlin stieß.
Überhaupt sei der Koalitionsvertrag in vielen Punkten eine verspätete Antwort auf Macrons ausgestreckte Hand nach Deutschland, sagt Paul Maurice vom IFRI. Denn Frankreich war von Merkels Deutschland jahrelang eher enttäuscht. Im September 2017 legte Präsident Macron mit seiner Sorbonne-Rede einen ambitionierten Plan für die Zukunft Europas vor. "Das Europa, das wir kennen, ist zu schwach, zu langsam, zu ineffizient, aber nur Europa gibt uns in dieser Welt Handlungsspielraum anlässlich der großen Herausforderungen." Macrons Lösungsvorschlag: Mehr Europa.
Seine Hoffnung: Deutschland würde aufstehen, sich Frankreich anschließen und eine gemeinsame europäische Zukunft gestalten. Doch die Antwort blieb aus. Vor allem, weil Deutschland keinen zu großen Schritt in Richtung europäische Integration gehen wollte.
Tabubruch "Differenzierte Integration"
"Mit der neuen Bundesregierung wird man in europapolitischen Fragen schneller Gemeinsamkeiten erzielen können als bisher," meint Ronja Kempin. Das Ampel-Programm stellt über sieben Seiten teils radikale Forderungen und Investitionsvorhaben für ganz Europa auf. Dass das von den europäischen Nachbarn so unterstützt wird, ist nicht vorstellbar, vor allem mit Blick auf Polen oder Ungarn. Theoretisch könnten diese Staaten die Reformen blockieren.
Die Koalition sagt aber auch, man wolle deshalb auf Bremser seltener warten: "Wir werden der Gemeinschaftsmethode wieder Vorrang geben, aber wo nötig mit einzelnen Mitgliedstaaten vorangehen," steht im Vertrag. "Das war nicht in der politischen DNA der Vorgängerregierung," sagt Kempin, "dass man eine 'differenzierte Integration' überhaupt in Erwägung zog - es hieß immer, alle 27 müssen im Gleichschritt voranschreiten." Nun seien kleinere Gruppen der Willigen durchaus möglich. Genau auf diese Neuerung hat man in Frankreich gewartet.
Der Koalitionsvertrag legt letztlich auch großen Wert auf die deutsch-französischen Beziehungen. "Auf Seite 136 wird die deutsch-französische parlamentarische Versammlung erwähnt," freut sich Christophe Arend, der im Vorstand dieser Organisation sitzt. "Das ist ein starkes Zeichen dafür, dass die zukünftige deutsche Regierung diese Versammlung sehr ernst nimmt, dass wir auch über andere Kooperationsebenen Hindernisse bewältigen können."
Jede Ehe hat ihre Streitpunkte
Scheinbar unlösbare Streitpunkte bleiben jedoch erhalten. Die heikle Frage der Kernenergie zum Beispiel. An den deutschen Atomausstiegsplänen ändert sich nichts. Die neue deutsche Koalition hat sich das Ziel gesetzt, bis 2030 ihren Strom zu 80 Prozent aus erneuerbaren Energiequellen zu gewinnen. Doch sie hält gleichzeitig am Ausstieg aus der Kernkraft fest. In Frankreich denkt man, man könne die Klimaziele nur durch bessere, moderne Kernkraft erreichen.
Auch betrachtet Paris den neuen Finanzminister Christian Lindner, Verfechter einer strengen Haushaltspolitik, mit Skepsis oder sogar Angst. Mit dem FDP-Chef im Amt rückt eine Reform des europäischen Stabilitätspaktes Richtung mehr Flexibilität bei Staatsverschuldung weiter außer Reichweite. Auch dort stehen Frankreich und die südeuropäischen Staaten auf der einen Seite, Deutschland und die so genannten "sparsamen Vier" (Österreich, Niederlande, Schweden und Dänemark) im starken Kontrast.
Doch das sind Streitigkeiten in ferner Zukunft. Zunächst einmal übernimmt Frankreich am 1.Januar 2022 für sechs Monate die Ratspräsidentschaft. Und im April wird in Frankreich gewählt, Ergebnis offen. Es ist also ein kleines Fenster von drei Monaten, in denen Deutschland und Frankreich große europäische Projekte anstoßen können. Auch deshalb ist die Reise von Olaf Scholz nach Paris mehr als ein Höflichkeitsbesuch an der Seine. Die Zeit für ein neues Europa drängt.