"Brauchen Diskussion über Gewaltbereitschaft"
5. Januar 2016 DW: Herr Oltmer, was war Ihr erster Gedanke, als Sie von den Kölner Silvester-Übergriffen auf Frauen hörten?
Oltmer: Von solcherlei Vorkommnissen hatte zumindest ich in den vergangenen Jahren nichts gehört. Bemerkenswert an den Berichten finde ich auch, dass doch offensichtlich sehr viel in der Silvesternacht vorgefallen ist, auch sehr viel Polizei vor Ort war, aber die Polizei selbst gar nichts festgestellt hat. Erst die Anzeigen danach förderten Konkretes zutage.
Mehrere vorübergehend Festgenommene konnten sich nur mit Duldungsbescheinigungen ausweisen. Das deutet auf eine Aufenthaltsdauer in Deutschland von mehr als einem Jahr hin. Haben wir es hier mit den Gescheiterten des Vorflüchtlingsjahres 2015 zu tun?
Naja, eine Duldung könnten grundsätzlich auch Menschen haben, die 2015 gekommen sind. Wir haben zwar auch das Phänomen der Kettenduldung in Deutschland, aber in der Regel gilt eine Duldung nur für ein Jahr. Die Duldung deutet darauf hin, dass es sich offenbar vor allem um Menschen handelt, die das Asylverfahren durchlaufen haben, aber nicht als Flüchtlinge anerkannt wurden. Sie dürfen zunächst in Deutschland bleiben, weil es gewichtige Gründe gegen eine Abschiebung gibt oder nicht klar ist, wohin sie abgeschoben werden können.
Noch wird Videomaterial ausgewertet und analysiert, doch schon jetzt ist klar: Die Kölner Vorfälle an Silvester sind eine politisch-gesellschaftliche Bombe nach dem Flüchtlingsjahr 2015 - man muss nur die Kommentare im Internet verfolgen. Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Es bedarf jetzt der Aufklärung. Es ist deutlich geworden, dass es offensichtlich viel an Foto- und Videomaterial gibt, das bislang nicht oder nur im sehr begrenzten Maße ausgewertet ist. Die Auswertung dieses Materials wird weitere Aufschlüsse bieten. Es kann sehr gut sein, dass noch weitere Anzeigen kommen als die bisherigen 90.
Und dann steht natürlich auch ganz explizit die staatsanwaltschaftliche Arbeit an. Es geht auch um die Frage, ob die Silvester-Übergriffe von Köln von langer Hand geplant worden sind oder ob es eher eine spontane Aktion gewesen ist. Und dann die Frage: Ging die Gewalt gegen Frauen ausschließlich von jungen Männern aus, die stark alkoholisiert waren? Das spräche eher gegen ein von langer Hand geplantes Vorgehen.
Brauchen wir nach Köln ein Exempel mit der Botschaft: So etwas dulden wir nicht in Deutschland?
Ich würde da sehr vorsichtig sein, weil bislang die Ergebnisse der Ermittlungen noch sehr spärlich sind. Klar ist, es gibt die entsprechenden gesetzlichen Regelungen, die in diesem Zusammenhang dann beispielsweise zu Ausweisungen führen können. Das hört sich immer sehr dramatisch an, aber wir haben es mit einem Rechtsstaat zu tun.
Wenn aus den Indizien Beweise werden und ein Großteil der Täter als Flüchtlinge oder Asylantragssteller identifiziert werden sollten, droht ihnen dennoch nach deutschem Recht keine Abschiebung. Die kommt nur bei schweren Straftaten wie Mord in Betracht. Ist eine solche Regelung der Gesellschaft noch zu vermitteln?
Das Problem liegt auf unterschiedlichen Ebenen. Erstens werden abgelehnte Asylantragsteller in großer Zahl abgeschoben. Die Neigung, wieder verstärkt auf Abschiebungen zu setzen, hat in den vergangenen Monaten stark zugenommen. Zweitens haben wir es mit einer Situation zu tun, in der es zum Teil sehr schwierig ist, überhaupt solche Abschiebungen durchzuführen. Denn der Status der Duldung verweist ja auch darauf, dass zum Teil gar nicht bekannt ist, woher die Menschen überhaupt kommen, die diese Duldung haben. Abschiebung zu fordern ist immer leicht, aber Abschiebungen dann durchzusetzen, ist ein relativ schwieriges und - aus gutem Grund - langwieriges Verfahren, weil es rechtstaatliche Hürden gibt, die rasche Abschiebungen verhindern. Es kann durchaus viele Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern, bis so etwas umgesetzt ist.
In der nordenglischen Stadt Rotherham haben mehrere Pakistaner über Jahre minderjährige Mädchen zur Prostitution gezwungen. Wie wir inzwischen wissen, haben die Behörden das gewusst, aber weggeschaut. Sie wollten nicht als ausländerfeindlich gelten. Wird Ausländerfeindlichkeit durch die Kölner Ereignisse nicht erst richtig befeuert?
Zumindest wird deutlich, dass wir eine Diskussion über Gewaltbereitschaft und Kriminalität von jugendlichen Zuwanderern brauchen. Ich habe den Eindruck, dass in diesem Kontext eine wirklich fundierte Diskussion in den vergangenen Jahren nicht stattgefunden hat. Wir haben ja beispielsweise das Phänomen, dass der Bereich der Jugendsozialarbeit in den vergangenen Jahren stark abgebaut worden ist - das gilt insbesondere für Sozialarbeit für männliche Jugendliche, auch für männliche Zuwanderer. Das scheint mir zum Beispiel ein Aspekt zu sein, über den wesentlich intensiver diskutiert werden sollte. Oberhalb der Stammtische ist die Kriminalität von Zuwanderern immer ein Thema gewesen, aber wir haben tatsächlich keine fundierte und intensive politische und gesellschaftliche, auch wissenschaftliche Diskussion in den vergangenen Jahren darüber geführt.
Jochen Oltmer ist Migrationsexperte und Professor an der Universität Osnabrück.
Das Interview führte Volker Wagener.
Sie können unterhalb dieses Artikels einen Kommentar abgeben. Wir freuen uns auf Ihre Meinungsäußerung!