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Opfer des Systems oder willige Vollstrecker?

Udo Bauer, Washington14. Mai 2004

Der Gefängnisskandal von Abu Ghraib hat das moralgeleitete Amerika ins Mark getroffen. Alle fragen sich warum und kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen.

Der Autor des Leitartikels in der Tageszeitung "USA Today" konnte sich nur wundern. Das Überraschendste an dem Folterskandal, so konstatierte Rick Hampson in der Donnerstagsausgabe des Blattes (13.5.), sei, dass so viele Amerikaner davon überrascht seien.

Die Geschichte und die Literatur der letzten Jahrzehnte seien doch voll von Beispielen dafür, dass auch normale Menschen manchmal zu ausufernder Brutalität in der Lage sind. Unter gewissen Umständen wird der Mensch quasi zwangsläufig zum Monster, so Hampsons Leitthese. William Goldings Klassiker "Herr der Fliegen" beschreibt eine solche Entwicklung unter auf einer einsamen Insel gestrandeten Kindern. Jeder vierte Vietnam-Veteran verstieß gegen die Genfer Konvention oder beobachtete Verstöße von Kameraden. Das ist statistisch erwiesen. Führt nicht jeder Krieg automatisch zur Verrohung der Beteiligten, so scheint der Autor zu fragen.

Vom Gutmensch zum Folterknecht

Auch das sogenannte Milgram-Experiment schien schon vor 50 Jahren einen Beleg für die Thesen des Autors zu bieten. Der Psychologe Stanley Milgram hatte darin nachgewiesen, dass die allermeisten Menschen in einem autoritären Klima Mitmenschen foltern oder gar töten können. Seinen Probanden wurde von Wissenschaftlern in weißen Kitteln erzählt, sie müssten Fehlleistungen anderer Probanden mit Stromschlägen bestrafen. Obwohl sie die Schreie ihrer (angeblichen) Opfer hörten, machten zwei Drittel der Probanden solange weiter, bis die Schreie endgültig verstummten.

Oder noch passender: Das sogenannte Stanford-Prison-Experiment des US-Psychologen Philip Zimbardo aus dem Jahre 1971. Zimbardo hatte 24 Studenten für ein Gefängnis-Rollenspiel eingeteilt. Einigen wurde die Rolle "Insasse" zugeteilt, die anderen wurden "Wärter". Im Gegensatz zu Milgram wurde keine autoritäre Atmosphäre kreiert – im Gegenteil. Für die Wärter gab es wenige Regeln und nur lasche Beaufsichtigung. Nach kürzester Zeit, vor allem nachts als Zimbardo zuhause war, wurden die Wärter brutal: Sie stülpten den Insassen Plastiktüten über die Köpfe, zogen sie nackt aus und zwangen sie dazu, sexuelle Handlungen zu simulieren. Als nach insgesamt sechs Tagen die ersten Insassen Nervenzusammenbrüche erlitten, musste Zimbardo das Experiment abbrechen.

Fruchtbarer Nährboden

Die Parallelen zum Skandal im Abu-Ghraib-Gefängnis sind in der Tat erschreckend: Die Soldaten des 372. Militärpolizei-Bataillons waren als Verkehrspolizisten ausgebildet worden und landeten schließlich in diesem völlig überfüllten, heissen, stinkenden Gefängnis außerhalb von Bagdad. Sie waren völlig überfordert. In dieser Atmosphäre fiel Brutalität auf einen fruchtbaren Nährboden, keine Frage. Es gab eine unklare Kommandostruktur, kaum Aufsicht, ständig Angst vor einem Aufstand. 16-Stunden-Schichten waren die Regel, ebenso wie der Mörserbeschuss in der Nacht. Stress und Frustration sind eine gefährliche Mischung. Dazu wurde vielen Soldaten eingeredet, die Insassen seien Terroristen beziehungsweise für die Anschläge vom 11. September oder für den Tod von Kameraden verantwortlich. Aber muss der Mensch unter diesem "System" zwangsläufig zum Folterer werden? Dieser Frage ging die Kolumnistin Anne Applebaum in der "Washington Post" (Ausgabe vom 12.5.) nach.

Mehr als eine Option

"Was würdest Du tun?" überschreibt sie ihren Artikel. Applebaum kommt zu dem Schluss, dass der Mensch niemals nur eine Handlungsmöglichkeit hat, dass er sich entscheiden kann zwischen foltern und nicht foltern, zwischen "Böses tun und Held sein", wie sie es ausdrückt. Sie erzählt die Geschichte der Soldatin Lynndie England und die des Gefreiten Joseph Darby. England hatte sich mit gedemütigten und nackten Gefangenen abbilden lassen, Darby hatte die Folterungen an einen Vorgesetzten gemeldet.

Warum hat der eine mitgemacht und der andere nicht? An der persönlichen Geschichte kann es nicht liegen. Beide kamen aus armen Landstrichen Amerikas, wuchsen in einfachen Verhältnissen auf. England wird von Freunden und Bekannten als ein Mensch beschrieben, der "keiner Fliege etwas zuleide tun kann.", ein rundum liebes, wenngleich schlichtes Mädchen. Darby hingegen hatte in seiner Jugend eine Tendenz zu Gewalt und Aggression. Dass ausgerechnet er die Gewaltorgie im Irak verraten haben soll, können seine Freunde von früher nicht glauben. "Das klingt nicht nach Joe", wird einer zitiert. Es ist völlig rätselhaft, wie das Böse entsteht, schreibt Applebaum, genauso rätselhaft ist es, wie ein Held entsteht. Es gibt keine typischen Verhaltensmuster, keine Zwangsläufigkeiten innerhalb eines Systems. Die Lösung liegt in der Psyche jedes Individuums, irgendwann kann man sich entscheiden, entweder für das Gute oder für das Böse.