1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Belarus - "Wir sollten verrecken"

Tatyana Nevedomskaya
11. August 2021

Diejenigen Belarussen, die nach Protesten im August 2020 in das berüchtigte Minsker Okrestina-Gefängnis gebracht wurden, leiden noch heute unter den Folgen der Folter. Die DW konnte mit mehreren Betroffenen sprechen.

Weißrussland Minsk | Demonstration
"Das Okrestina-Gefängnis steht für Folter und Tod " - steht auf dem PlakatBild: Valery Sharifulin/TASS/dpa/picture alliance

Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko weist die Vorwürfe zurück: Diejenigen, die sich an den Protesten gegen das Wahlergebnis der Präsidentschaftswahl im August 2020 beteiligt hatten und festgenommen wurden, seien nicht gefoltert worden. Lediglich 47 Personen würden im Gefängnis in der Minsker Okrestina-Gasse arbeiten, so Lukaschenko: "Und diese sollen 2000 Menschen gefoltert haben und man soll in einem Kilometer Entfernung gehört haben, wie sie geschrien haben? Das ist alles Fake, das ist unwahr", sagte er am Montag in einem vom Staatsfernsehen ausgestrahlten Gespräch mit Journalisten und sorgfältig ausgesuchten Bürgern.

Die DW hat mit einigen Betroffenen gesprochen, die vor einem Jahr im Okrestina-Gefängnis gesessen haben.

Iwan: "Sie schossen in die Luft, um die Leute gefügig zu machen"

Iwan, dessen Name auf seinen eigenen Wunsch geändert wurde, wurde am 9. August 2020 in der Nähe eines Wahllokals festgenommen. "Sie brachten uns zum Polizeirevier. Dort mussten wir zweieinhalb Stunden mit erhobenen Armen stehen. Dann fesselten sie unsere Hände mit Kabelbindern auf dem Rücken und schickten uns in Begleitung von Spezialkräften ins Gefängnis in der Okrestina-Gasse. Bei der kleinsten Bewegung wurden wir geschlagen", erinnert sich Iwan aus Minsk. Zudem seien Häftlinge auch auf andere Weise gedemütigt worden.

2020: Belarussische Spezialeinheiten sind gegen Demonstranten vorgegangenBild: Viktor Tolochko/dpa/picture-alliance

Iwan fand sich schließlich in einer Acht-Betten-Zelle wieder, in der sich aber schon 37 Männer befanden, erzählt er. Dort sei es stickig gewesen und die Wände feucht vor Schweiß. Eines Nachts wurde Iwan schlecht, woraufhin er Tabletten gegen seine Herzbeschwerden bekam. Er durfte eine halbe Stunde in einem frisch gelüfteten Raum verbringen:  "Zweieinhalb Tage lang bekamen wir kein Essen, wir tranken aus dem Wasserhahn und schliefen auf dem schmutzigen Boden. Als einer der Häftlinge den Wärter fragte, was man tun müsse, damit die Schläge aufhören, wurde ein Eimer Wasser über ihn gegossen. Ständig wurde uns gedroht", erinnert sich Iwan und fügt hinzu, den Häftlingen sei gesagt worden, alle ihre Stimmen, die sie für die oppositionelle Kandidatin Swetlana Tichanowskaja abgegeben hätten, würden Lukaschenko zugeschlagen.

In der Zelle, so Iwan, sei klar zu hören gewesen, wie neu ankommende Häftlinge geschlagen wurden: "Polizeiautos kamen an, die Türen öffneten sich, die Wachen schlugen alle und die Leute schrien. Einmal schossen die Wachen mit einem Maschinengewehr in die Luft, um die Leute gefügig zu machen, damit sie begreifen, wo sie sich befinden."

In der Nacht vom 12. auf den 13. August 2020 wurden diejenigen, die nach 72 Stunden Haft wieder freigelassen wurden, davor noch einmal geprügelt. Nachdem er sich drei Tage kaum bewegen konnte, fuhr Iwan in eine Poliklinik. Noch am selben Tag kamen Ermittler zu ihm und Iwan erstattet Anzeige gegen Mitarbeiter des Gefängnisses. Doch weiter passierte nichts, außer, dass Iwan zweimal schriftlich mitgeteilt wurde, die Prüfung des Falles werde verlängert. Iwan betont, er habe noch immer nicht seine frühere körperliche Verfassung wiedererlangt.

Jewgenij: "Sie schlugen uns wegen jeder Bitte"

Am Abend des 11. August 2020 wurde Jewgenij in Minsk festgenommen und am nächsten Tag ins Gefängnis gebracht. "In den Zellen des Gefangenentransporters waren statt einer Person, drei bis vier. Einige mussten auf dem Boden liegen. Auf mir lag eine Person und dann haben sich auch Polizisten auf uns gestellt", erinnert er sich.

Das Gefängnis in der Minsker Okrestina-GasseBild: CC BY 3.0-DobryBrat

Als sie im Gefängnis angekommen sind, erinnert sich Jewgenij, hätte man sie mit dem Gesicht zur Wand kniend gefesselt. "Von Zeit zu Zeit mussten wir etwa 200 Meter nach rechts und dann wieder nach links laufen. Dabei wurden wir geschlagen", so Jewgenij. Danach kam er in einen schätzungsweise 25 Quadratmeter großen Laufhof, in dem sich schon weit über 100 Personen befanden. Die Leute hätten sich nachts umarmt, um sich warm zu halten, erzählt er. "Es gab weder eine Toilette noch Wasser. Den Menschen ging es sehr schlecht, manche hatten Augenverletzungen, Frakturen, ausgeschlagene Zähne. Ein junger Diabetiker bekam sein Insulin nicht. Sie schlugen uns wegen jeder Bitte", erinnert sich der Mann.

Jewgenij wurde am Abend des 13. August freigelassen. Seine Mutter sei Medizinerin und habe sich erschüttert gezeigt über den Arztbericht ihres Sohnes. Wer im Okrestina-Gefängnis gewesen sei, habe nur gehofft, dass alles, was dort geschehe, nur ein schlechter Traum sei.

Einen Prozess gegen Jewgenij gab es nicht. Im September fuhr er im Rahmen des tschechischen medizinischen und humanitären Programms MEDEVAC zu einer Reha nach Tschechien. Dort hat er später eine Zulassung als Masseur bekommen. Mittlerweile ist auch seine Familie nachgezogen.

Marina: "Es hieß nur, dass wir doch verrecken sollten"

Marina, deren Name auch auf eigenen Wunsch geändert wurde, wurde am späten Abend des 11. August 2020 festgenommen. Sie erzählt, es sei ein regelrechter "Angriff von Sicherheitskräften auf Menschen" gewesen, die sich in der Nähe des Minsker Kaufhauses "Riga" aufgehalten hätten.

"Es gab dort keine Kundgebung oder eine andere Veranstaltung, es waren weder Symbole der Protestbewegung noch Plakate mit Parolen zu sehen." Doch plötzlich seien die Menschen von Bussen umzingelt worden, aus denen Sicherheitsbeamte in dunkelgrünen Uniformen sprangen. Alle mussten sich auf den Boden legen, erinnert sie sich. Manche hätten fliehen können, aber wer zurückblieb, wurde weggebracht. Sie selbst wurde auf den Kopf und auf den Oberschenkel geschlagen. Fast zwei Monate hatte sie ein Hämatom an ihrem Bein.

Sicherheitskräfte haben im August 2020 Demonstranten in Minsk festgenommenBild: Reuters/V. Fedosenko

Auch sie wurde ins Okrestina-Gefängnis gebracht. Ihr zufolge erging es denjenigen am schlimmsten, die von den Polizisten bei der Festnahme mit Farbe markiert worden waren. "Anhand der Markierungen, wie sich später herausstellte, wurde entschieden, wer wie viel geschlagen werden sollte. Unter uns waren Menschen mit ernsthaften Verletzungen, aber trotz unserer Bitten und Forderungen schnell einen Krankenwagen zu rufen, hieß es nur, dass wir doch verrecken sollten", sagt Marina.

Eine vier-Bett-Zelle belegt mit über 30 Personen

Sie verbrachte 17 Stunden im Hof des Gefängnisses und hörte, wie Männer geschlagen wurden. Es seien laute und schreckliche Schreie gewesen. Gleich am darauffolgenden Tag wurde Marina zu zehn Tagen Haft verurteilt. Die kam in eine vier-Bett-Zelle, in der sich schon mehr als 30 Personen befanden. Nachdem Marina Berufung eingelegt hatte, kam sie nach zwei Tagen frei. Doch die ersten 17 Stunden musste sie ohne Essen, Wasser und Toilette ausharren. Schlaf fand sie auch keinen. Später habe es gechlortes Leitungswasser, Haferbrei und Tee gegeben.

Nach dem Aufenthalt im Okrestina-Gefängnis hat sich der allgemeine Gesundheitszustand von Marina verschlechtert. Im August letzten Jahres hätte es so ausgesehen, als würden die meisten Belarussen Veränderungen wollen, so Marina. Doch heute zeigt sie sich desillusioniert. "In Wirklichkeit haben viele, die mit der repressiven Politik nicht einverstanden sind - sogar diejenigen, die an den Protesten teilgenommen haben - beispielsweise weiter im Propaganda-System gearbeitet oder so getan, als würde es sie nicht angehen, was passiert." Da sie dies nicht länger ertragen konnte und um ihre Sicherheit fürchtete, verließ sie Belarus.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen