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Politik

Orbáns kühles Kalkül gegen Juncker

Boris Kálnoky
22. Februar 2019

Mit seiner jüngsten Kampagne gegen EU-Präsident Juncker mag Orbán in der EU den Bogen überspannen - aber bei uns Ungarn landet er mal wieder einen Volltreffer.

Boris Kalnoky
Bild: privat

Jeden Morgen beim Frühstück streiten wir darüber, worüber wir uns heute beklagen wollen - so charakterisierte ein Komödiant einmal unsere ungarische Eigenart. Da ist was dran. Niemand streitet und klagt so leidenschaftlich wie wir. Besonders gerne über die Regierung, aber gleichzeitig mögen wir es, wenn sie mit starker Hand die Lage im Griff hat.

Wir klagen also über "die da oben", die sowieso nur ihr eigenes Süppchen kochen, aber nächstes Mal werden wir sie wieder wählen. Ähnlich verhält es sich mit der EU. Wir klagen und schimpfen über sie, aber wir möchten sie nicht missen. Viktor Orbáns jüngste Plakataktion gegen den Präsidenten der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, ist insofern ein Volltreffer, ein Meisterwerk an politischer Menschenkenntnis.

Wir sehen die Plakate, auf denen der US-Milliardär jüdischer Herkunft, George Soros im Hintergrund und Juncker im Vordergrund greisenhaft-gespenstisch grinsen. Sie wollen Europa mit Migranten überfluten, steht da, und dass wir, das ungarische Volk, es verdient haben, das zu erfahren.

Dreist und selbstbewusst Stärke zeigen

Wir sehen uns das an und denken: Mannomann, was für ein Mist schon wieder. Wir wissen, dass die Plakate Geld kosten aus der Steuerkasse, und dass sicher irgendwelche Freunde der Regierung auf diese Weise etwas reicher werden. Wir wissen, dass es bestimmt nicht so ist, dass Soros und Juncker Hand in Hand die EU und damit auch uns ins Verderben führen. Wir schimpfen über die Regierung, die uns schon wieder für dumm verkauft.

Ein strategischer Coup oder ein Eigentor? - Orbans "Feindbilder" Soros und JunckerBild: picture-alliance/AP Photo/P. Gorondi

Aber dass sie das so dreist und selbstbewusst tut, das werten wir als Stärke, das mögen wir. Dass dieser Juncker nicht ganz koscher ist, das glauben wir im übrigen gerne, und auch dass die EU Dinge will, die wir nicht wollen. Migranten zum Beispiel.

Wir schimpfen gerne über Brüssel, und es fällt uns leicht, dafür Juncker als Symbol zu akzeptieren. Wir wissen aber auch, dass die EU eine gute Adresse ist - dass es besser ist, wenn man dazugehört. Und dass sie es uns und unseren Kindern potentiell ermöglicht, in reicheren Ländern zu arbeiten und mehr Geld zu verdienen. Das finden wir toll. Nirgends in Europa hat die EU bessere Umfragewerte als in Ungarn (außer vielleicht in Polen).

Aber wer ist dieser Juncker? Kaum jemand hat jemals von ihm gehört, nur 46% der Ungarn ist der Name schon mal untergekommen (einer der niedrigsten Werte in der EU), und sehr viel mehr außer dem Namen weiß niemand über ihn. Zuvor kannte kaum jemand Soros. Jetzt schon, dank der ständigen Regierungspropaganda gegen ihn.

Juncker ist die perfekte Zielscheibe

Dass beide kaum bekannt sind (oder waren) ist der springende Punkt: Man kann ihnen durch gezielte Kampagnen eine negative Identität überstülpen und sie zum Feindbild aufbauen. Beide haben keine eigene Macht, die sie verteidigen könnte. Soros ist Spekulant und Privatmann. Juncker ist ein abdankender Bürokrat, politisch eine lahme Ente, die perfekte Zielscheibe. Wer weiß was noch alles gegen ihn ins Spiel gebracht werden wird. Seine angebliche Liebe zum Alkohol auch tagsüber, die Sache mit der Steueroase Luxemburg, als Juncker dort Regierungschef war.

Es ist, als wäre Juncker der Gegner im aktuellen EU-Wahlkampf - aber Fidesz, die Regierungspartei, gehört zu Juncker's EVP. Ungarn unterstützt den EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber als nächsten Kommissionspräsidenten. Aber auf diese Weise? Kein Wunder dass bei der EVP die Sicherungen durchbrennen. Juncker, Weber, alle schreien auf. Einmal mehr wird der Ruf nach einem Ausschluss der Fidesz laut. CDU-Generalsekretärin Kramp-Karrenbauer droht, den seit September angeschobenen "strukturierten Dialog" mit Fidesz abzubrechen. Freilich existiert dieser Dialog bislang sowieso nur als Projekt - passiert ist bislang nichts.

Rauswurf oder mehr Fidesz-Einfluss in der EVP?

Wie macht das alles Sinn? Den Eurokraten geht es bei den EP-Wahlen um die EU, aber Fidesz geht es um die eigene Macht daheim. Schätzungen sehen die Partei bei 13 oder auch nur zwölf Abgeordneten im nächsten Europaparlament (gegenwärtig sind es elf). Wenn die Anti-Juncker-Kampagne so gut funktioniert wie bei den letzten Parlamentswahlen die Anti-Soros-Kampagne, können es aber auch 14 werden. Fidesz wird im Europa-Parlament wachsen - aber die EVP-Fraktion schrumpfen. Fidesz kann die erschwachende EVP also stärken, dabei würde auch das relative Gewicht der Ungarn in der EVP zunehmen.

Orban spekuliert auf mehr Fidesz-Sitze in der EVP nach den Europawahlen Bild: Getty Images/AFP/A. Kisbenedek

Wenn man ein bis zwei Mandate von Parteien der ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern dazuzählt, sind das rund 15 Sitze in einer nach den Wahlen wahrscheinlich geschwächten, aber immer noch dominanten EVP. Das bedeutet, dass das relative Gewicht der Partei in der EVP wachsen würde, und ein Mandat mehr ist auch ein Mandat mehr für die EVP. Fidesz wäre zudem potentiell eine Brücke zu den erstarkenden euroskeptischen Rechtsparteien. Ungefähr so mag das Kalkül der Regierung aussehen, warum sie sich die Anti-Juncker-Kampagne politisch leisten kann. Die EVP, so kalkuliert man, kann auch rechnen und müsste den Nutzen erkennen.

Die Frage ist, ob die EVP Brücken nach rechts bauen oder am Rand zum nationalkonservativen Terrain Grenzmauern errichten will. Wenn sie sich dafür entscheidet, hat Orbán den Bogen diesmal überzogen - dann ist Fidesz ideologisch nicht mehr EVP-kompatibel und fliegt aus der Fraktion. Die würde sich damit freilich selbst ein Bein abschneiden.

Denn die Fidesz-Abgeordneten sind bei Abstimmungen die loyalsten überhaupt. Orbán schätzt Loyalität, und er hatte hinter den Kulissen lange ein gutes Verhältnis zu Juncker - bis dieser plötzlich öffentlich Orbáns Rauswurf aus der EVP forderte. Das war im vergangenen Herbst. Jetzt ist die Quittung da. 

Boris Kálnoky, Jahrgang 1961, berichtet als Ungarn-Korrespondent mit Sitz in Budapest für die Tageszeitung "Die Welt" und andere deutschsprachige Medien. Er ist Autor des Buches "Ahnenland" (Droemer 2011), in dem er sich auf die Spuren seiner Vorfahren begibt - unter anderen der k.u.k.-Außenminister Gustav Kálnoky. 

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