Orban gegen die Ukraine: Kampagne zu Ende, Hetze geht weiter
26. Juni 2025
Der Kofferraum des Autos öffnet sich. Darin liegt ein gefesselter junger Mann, er zappelt mit schlecht gespielten Bewegungen. Vor dem Kofferraum steht eine Frau - Alexandra Szentkiralyi, früher ungarische Regierungssprecherin, heute die bekannteste Social-Media-Propagandistin des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban. Sie sagt: "Ich denke, ihr möchtet ja auch nicht, dass so etwas mit euch passiert, denn mit dem schnellen EU-Beitritt der Ukraine kommen die Organhändler, die Waffenhändler, die Drogenhändler und die Menschenhändler."
Das Facebook- und TikTok-Reel ist zehn Sekunden lang. Mit Videos wie diesem wurden die Menschen in Ungarn seit mehr als zwei Monaten regelrecht überschüttet - im Internet ebenso wie in regierungstreuen ungarischen Fernsehsendern. Auch in Radiostationen liefen permanent antiukrainische Werbespots, und der öffentliche Raum Ungarns war voller Plakate mit einem böse und bedrohlich dreinblickenden ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Es war nicht einfach eine weitere der vielen Hetz- und Hasskampagnen Orbans - sondern die erste, die sich pauschal gegen ein ganzes Land richtete und es zum "Mafia-Staat" erklärte. Es war auch Orbans erste Kampagne, die Bürgerinnen und Bürger eines ganzen Landes kollektiv entmenschlichte und als gefährliche, erbarmungslose Kriminelle diffamierte, die Ungarn angeblich vernichten würden - durch Organ-, Menschen-, Drogen- und Waffenhandel, durch genmodifizierte Lebensmittel und dadurch, dass sie den Ungarn die Arbeitsplätze, die Einkommen, die Renten und die Gesundheit wegnehmen würden.
Ergebnis nicht überprüfbar
Das Ziel der "Abstimmung 2025" genannten Kampagne: Die Ungarn sollten sich gegen eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine aussprechen. Am vergangenen Samstag (21.06.2025) ging die Abstimmung zu Ende. An diesem Donnerstag (26.06.2025) nun verkündete Viktor Orban persönlich das Ergebnis - kurz vor Beginn eines EU-Gipfels in Brüssel: 2,27 Millionen Ungarn hätten sich beteiligt (was rund einem Drittel der ungarischen Wähler entspricht), 95 Prozent hätten gegen eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine gestimmt. Er sei "mit einem starken Mandat" nach Brüssel gekommen, so Orban. "Mit der Stimme von mehr als zwei Millionen Ungarn" werde er sagen können, dass er den ukrainischen EU-Beitritt nicht unterstütze.
Wie bei allen bisherigen derartigen Kampagnen Orbans, etwa denjenigen gegen Migranten oder gegen den US-Börsenmilliardär ungarisch-jüdischer Abstammung George Soros, lässt sich auch diesmal nicht nachprüfen, ob die Ergebnisse real sind oder nicht. Eine unabhängige Beobachtung des Wahlprozesses oder eine unabhängige öffentliche Zählung der Stimmen lässt die ungarische Regierung nicht zu. Bei einer ähnlichen Umfrage, die vor kurzem von der Tisza-Partei (Respekt und Freiheit), der größten ungarischen Oppositionspartei, veranstaltet worden war, hatten sich 58 Prozent der befragten Ungarn für eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine ausgesprochen.
Brief an das ukrainische Volk
Viele Reaktionen in der ungarischen Öffentlichkeit lassen darauf schließen, dass ein erheblicher Teil der Ungarn die Orban-Kampagne für übertrieben, falsch, lügnerisch oder ein Ablenkungsmanöver hält. Manche Videos, darunter vor allem das Kofferraum-Video von Alexandra Szentkiralyi, sind zur Vorlage für hunderte ironische oder sarkastische Memes in sozialen Medien geworden, in denen die Propaganda oder die Korruptionsaffären des Orban-Systems aufs Korn genommen werden. Auch an zahlreichen Postings in sozialen Netzwerken, darunter an kritischen Kommentaren auf den Facebook- und TikTok-Kanälen Viktor Orbans, ist abzulesen, dass viele Ungarn die antiukrainische Kampagne des Premiers als moralisch verwerflich oder lügnerisch empfinden.
Vor wenigen Tagen veröffentlichten 50 bekannte ungarische Persönlichkeiten - Akademiker, Künstler, Publizisten und ehemalige Politiker und hochrangige Staatsfunktionäre wie der einstige konservative Außenminister Geza Jeszenszky und der Ex-Nationalbankpräsident Peter Akos Bod einen "Brief an das ukrainische Volk", in dem sie Orbans Propaganda verurteilten und ihre Solidarität mit der Ukraine erklärten.
Wahrscheinlich keine Kehrtwende
Trotz solcher Stimmen scheint es jedoch nahezu ausgeschlossen, dass Orban und seine Regierung eine Kehrtwende in ihrer antiukrainischen Politik vollziehen. Selbst dass Orbans Macht- und Propagandaapparat den Ton mäßigt oder auf bestimmte Narrative verzichtet - wie etwa das, dass die Kriegsverbrechen in Butscha von der ukrainischen Armee inszeniert worden seien -, scheint nur schwer vorstellbar. Denn die Ukraine ist zum bestimmenden Thema des Wahlkampfes für die Parlamentswahl im Frühjahr 2026 geworden.
Von der Regierungsmehrheit wird die Oppositionspartei Tisza, die in Umfragen inzwischen weit vor Orbans Partei Fidesz liegt, als politische Kraft verleumdet, die von der Ukraine und aus Brüssel bezahlt sei. Das Ziel sei, in Ungarn die Macht zu übernehmen, das Land zu verkaufen und in den Krieg gegen Russland zu stürzen. Der Tisza-Chef Peter Magyar selbst trägt in der Orban-Propaganda meistens den Spitznamen "Ukrainer-Peti". Einem anderen prominenten Tisza-Politiker, dem ehemaligen ungarischen Generalstabschef Romulusz Ruszin-Szendi, wirft die ungarische Regierung ohne Belege vor, ukrainischer Spion zu sein. In der Partei Tisza selbst, so Orban-treue Medien, setze sich der ukrainische Gruß "Slava Ukraini!" als Parteislogan durch.
Beziehungen irreparabel ruiniert
Fest steht, dass Orban mit dieser Politik die ungarisch-ukrainischen Beziehungen irreparabel ruiniert hat, solange er an der Macht bleibt. Der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj und die ukrainische Regierung haben zu Orbans Politik bis vor Kurzem geschwiegen oder sie nur vorsichtig-diplomatisch kommentiert. Das hat sich geändert.
In seinem ersten Interview für ein ungarisches Medium, das unabhängige konservative Portal Valasz Online, kritisierte Selenskyj Anfang Juni, dass Orban die Ukraine für seine Wahlkampagne benutze. "Er versteht nicht, dass dies viel schwerwiegendere und gefährlichere Folgen haben wird: die Radikalisierung und den Antiukrainismus der ungarischen Gesellschaft", so Selenskyj. Indem Orban die Ukraine nicht unterstütze, tue er dem russischen Staatschef Wladimir Putin einen Gefallen, das sei ein "schwerer historischer Fehler", so der ukrainische Staatspräsident.
Auch das ukrainische Außenministerium äußerte sich nun erstmals explizit kritisch. Am Dienstag (24.06.2025) veröffentlichte das Ministerium eine Erklärung, in der es die Kampagne "Abstimmung 2025" als von "manipulativer Absicht" getrieben bezeichnete. In der monatelangen Kampagne hätten ungarische Regierungsbeamte "nicht-existente Bedrohungen, die angeblich aus der Ukraine kämen, erfunden, um ungarische Bürger einzuschüchtern", heißt es in dem Text. Das Ziel "antiukrainischer Hysterie" sei, von eigenen Misserfolgen abzulenken. Man sei aber "zuversichtlich, dass die überwiegende Mehrheit der ungarischen Bürger in der Lage ist, diese primitive Manipulation zu erkennen".