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Politik

Wie russisch sind die Ungarn?

5. Februar 2022

Mitten in der größten sicherheitspolitischen Krise Europas seit Ende des Kalten Krieges trifft sich Ungarns Premier Viktor Orban mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Wie kommt das in Ungarn an?

Russland | Treffen Putin und Orban in Moskau
Der russische Präsident Wladimir Putin und Ungarns Premier Viktor Orban am 1.02.2022 in Moskau Bild: Mikhail Klimentyev/Russian President Press Office/dpa/picture alliance

Seit Wochen zieht Russland Truppen an der ukrainischen Grenze und auf der annektierten Krim zusammen. Der Westen denkt über neue Sanktionen nach. Die USA schicken Soldaten nach Osteuropa, China verkündet die Unterstützung Russlands. Eine ähnlich bedrohliche Ost-West-Dynamik gab es zuletzt im Kalten Krieg. Ausgerechnet in diesem Augenblick fliegt Viktor Orban, Ministerpräsident eines NATO- und EU-Landes, nach Moskau und verhandelt bilateral fünf Stunden mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Wladimir Putin und Viktor Orban am 1.02.2022 in Moskau Bild: Sputnik via REUTERS

Orban präsentiert sich überaus staatsmännisch bei Putin: Er sei auf Friedensmission und überbringe die Botschaft der EU, keinen Krieg führen zu wollen. Er empfehle das äußerst pragmatische ungarische Modell auch anderen Ländern für deren Beziehungen zu Russland. Und - die antirussischen Sanktionen seien wirkungslos, die EU habe damit mehr verloren als Russland.

Stolz auf Orban?

Wie denken die Ungarn über diesen politischen Moment? Sind sie stolz auf ihren Regierungschef, dem Putin die ganz große Bühne anbietet? Oder sehen sie eher einen Ministerpräsidenten eines EU-Landes, der nach Moskau bestellt wird, um als Lebendschmuckstück zu dienen, wenn Putin seine geopolitischen Ansprüche verkündet?

Wladimir Putin und Viktor Orban am 1.02.2022 in MoskauBild: Sputnik via REUTERS

Unter den Ungarn sind beide Meinungen verbreitet. Doch das hängt weniger mit Russland an sich, als vielmehr mit der politischen Spaltung im Land zusammen. Wie die Studien der unabhängigen Budapester Forschungsgruppe Mertek Media zeigen, hängt es erheblich von der politischen Orientierung der Befragten in Ungarn ab, wie sie das Tagesgeschehen interpretieren. Beispielsweise bewerten die Wähler, die für Orban stimmen, auch das Tagesgeschehen im Einklang mit den Darstellungen der Regierung.

Niedrige Gaspreise

Was jedoch für breite ungarische Bevölkerungsschichten derzeit am meisten zählen dürfte, ist die Aussage Putins bei den Verhandlungen mit Orban, derzufolge Ungarn nach dem bis 2036 gültigen Liefervertrag für Erdgas nur ein Fünftel des derzeitigen Marktpreises in Europa bezahlt. Putin verschwieg dabei, dass das am Marktpreis liegt, der innerhalb eines Jahres um das Fünf- bis Siebenfache stieg - eine Verteuerung, die im ungarisch-russischen Gasliefervertrag erst mit einer mehrmonatigen Zeitverzögerung greift.

Gasleitungen nahe des ostungarischen Ortes HajduszoboszloBild: AP

Doch derzeit stimmt die Rechnung: Im Augenblick liegen die Energiepreise für die Bevölkerung und die Kleinunternehmen in Ungarn deutlich unter denen in Westeuropa. Ein Grund für Orbans Besuch in Moskau könnte in diesem Zusammenhang sein, eine Modalität zu finden, wie die ungarische Regierung die Zeit überbrückt, bis sich die Marktpreise für Gas wieder normalisieren. Denn die Ungarn haben sich seit langem an niedrige Gaspreise gewöhnt: Eine Deckelung der Energiepreise für private Haushalte wurde schon vor Jahren eingeführt. Aus diesem Grund wird Orbans Treffen mit Putin die Russland-Sympathien in Ungarn wohl auch nicht wesentlich vergrößern.

Kein Wahlkampfthema

Zwar verurteilen ungarische Oppositionsparteien Orban immer wieder für seinen Kuschelkurs mit Wladimir Putin. Sie bezeichnen ihn als "Putins Pinscher", "Agenten Moskaus" oder "trojanisches Pferd in der EU". Auch diesmal kritisierte die Opposition Orbans Besuch in Moskau scharf. Dennoch wurde bisher nie ein Wahlkampfthemadaraus.

Wladimir Putin und Viktor Orban am 30.09.2019 in BudapestBild: Kremlin Press Office /AA/picture alliance

Beispiel: das Atomkraftwerk Paks. Der grün-linksliberale Politiker Benedek Javor schlug 2018 vor, den umstrittenen Ausbau von Paks mit russischer Finanz- und Technologiehilfe zum Wahlkampfthema zu machen. Denn laut einer Umfrage unterstützten damals nur 41 Prozent der Ungarn die Erweiterung von Paks um zwei neue Blöcke und nur 31 Prozent wollten, dass dies unter russischer Regie verwirklicht wird. Ein Wahlkampfthema wurde daraus trotzdem nicht: Zu unterschiedlich beurteilten die Oppositionsparteien das Atomkraftprojekt. Ohnehin war die Erweiterung von Paks schon vor Orbans Machtantritt 2010 mit breitem Parlamentskonsens beschlossen worden.

Früher gegen, heute für Russland

Auch im Allgemeinen klingen nicht alle Oppositionsparteien glaubwürdig, wenn sie Orbans Putin-Nähe kritisieren. Einer, der dabei besonders zwiespältig wirkt, ist der sozialistische Ex-Premier Ferenc Gyurcsany, heute Vorsitzender der liberalen Partei Demokratische Koalition (DK). Er kritisiert Orbans Treffen mit Putin regelmäßig besonders scharf. Doch er pflegte einst selbst ein enges Verhältnis zum russischen Präsidenten. Inzwischen sagt Gyurcsany dazu, Putin sei früher "ein anderer" gewesen als heute.

Ungarns Ex-Premier Ferenc Gyurcsany, hier im Jahr 2009Bild: AP

Ohnehin ist die Frage, ob es erfolgreich wäre, im Wahlkampf gegen Russland zu mobilisieren. Heute zählt bei Orbans Anhängern längst nicht mehr, dass er sich als Jungpolitiker 1989 einen Namen machte, als er öffentlich den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn forderte. Seine Wähler finden es auch nicht widersprüchlich, dass er im Zusammenhang mit Russland praktisch nie darüber spricht, dass die sowjetische Armee während der Revolution von 1956 in Ungarn einmarschierte und den Volksaufstand blutig niederschlug - eine Erfahrung, die bis heute tief im Gedächtnis vieler älterer Ungarn präsent ist. Zugleich versäumt Orban jedoch nie, linke Oppositionspolitiker in Ungarn als alte Kommunisten zu brandmarken.

Tatsächlich scheint Orban seine Wähler in den vergangenen 15 Jahren regelrecht umgedreht zu haben: Als er Russland im Jahr 2003 noch sehr kritisch gegenüberstand, dachten auch die meisten seiner Wähler ähnlich. Inzwischen hat sich das geändert: In einer Umfrage von 2018 sprach sich eine Mehrheit von Orban-Anhängern dafür aus, engere Beziehungen mit Russland zu pflegen als mit den USA. Und fast zwei Drittel fanden, dass ein starkes Russland besser für Ungarn sei als ein schwaches.

Zsolt Bogar Redakteur bei DW Ungarisch. Hauptinteressen: ungarische und europäische Politik und Wirtschaft.
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