Orhan Pamuk: "Die Fremdheit in mir"
18. Februar 2016 Mevlut geht einem fast ausgestorbenen Beruf nach, er ist Boza-Verkäufer: Laut rufend läuft er durch die verwinkelten Gassen Istanbuls und bietet das Getränk aus vergorener Hirse an. Boza ist nur leicht alkoholisch, so dass es auch von frommen Muslimen geduldet und konsumiert wird. Doch in der modernen Metropole ist für Männer wie Mevlut kein Platz mehr, er muss sich als Parkplatzwächter und Stromableser verdingen, mit Boza ist kein Geld mehr zu machen.
Und auch in der Liebe hat er kein Glück: Drei Jahre lang hat er Briefe an seine Auserkorene in Anatolien geschrieben, doch dann schickt ihm die Familie deren ältere Schwester. Mevlut heiratet sie pflichtbewusst, die eigentliche Angebetete bekommt ausgerechnet ein Jugendfreund zur Frau. Das ist der Ausgangspunkt der Geschichte mit dem Untertitel "Abenteuer und Träume des Boza-Verkäufers Mevlut Karataş und seiner Freunde sowie ein aus zahlreichen Perspektiven erzähltes Panorama des Istanbuler Lebens zwischen 1969 und 2012".
Über die kollektive Schwermut in Istanbul
Das Buch, das Orhan Pamuk derzeit auf Lesereise durch Deutschland vorstellt, ist eine episch breit erzählte Hommage an das alte Istanbul, jene Stadt, die nach und nach der Moderne weichen muss und deren Verlust Mevlut Karataş und seine Freunde hautnah erleben. "Hüzün" heißt das Schlüsselwort, das die Stimmung des Romans prägt: eine kollektive Schwermut, die an vergangene Kultur, Größe und Pracht erinnert. "Hüzün" bedeutet wörtlich übersetzt Trübsinn, Traurigkeit, aber es ist noch so viel mehr: Es ist "das Gefühl, mit dem sich im letzten Jahrhundert Istanbul und seine Bewohner auf intensivste Weise infiziert haben", sagte Pamuk einmal. Es handele sich dabei nicht um die Schwermut des Einzelnen, sondern um ein von Millionen Menschen zugleich empfundenes "schwarzes Gefühl".
Istanbul im Glaskasten - aufgehoben, konserviert, erinnert. Die türkische Metropole im Spannungsfeld zwischen islamischen Werten, eigener Tradition und der Sehnsucht nach dem Westen spielen in Pamuks Romanen, so auch in seinem neuen Werk "Die Fremdheit in mir", eine wichtige Rolle. Sehr genau beobachtet er die vielen Veränderungen in der Metropole am Bosporus. Dabei versteht sich der Schriftsteller keineswegs als Stadt-Chronist. "Ich muss immer schmunzeln, wenn mich westliche Medien als 'Istanbul-Literaten' bezeichnen", sagt er. "Dabei schreibe ich doch nur über das, was mich ein Leben lang umgeben hat, und was ich man besten kenne."
Literatur zwischen Okzident und Orient
Orhan Pamuk, geboren 1952, wuchs in einer säkularen Familie der Istanbuler Oberschicht auf, für die die Türkei ein selbstverständlicher Teil Europas ist. Pamuk besuchte amerikanische Schulen und las viele westliche Klassiker wie Tolstoi, Proust und Kafka. Heute reflektieren seine Romane das Identitätsproblem vieler Türken - hin- und hergerissen zwischen Orient und Okzident. 2006 erhielt Orhan Pamuk den Literaturnobelpreis, in der Laudatio lobte die Jury seine Werke als "ein dichtes und vielfältiges Gewebe aus schwarzem Humor, blitzendem Scharfsinn, sinnlicher, stark visuell geprägter Darstellung, kriminalistischer Kombinationsgabe und romantischen Sehnsüchten im Bewusstsein der schnöden Wirklichkeit."
Die Auszeichnung verschaffte dem türkischen Schriftsteller weltweite Aufmerksamkeit, seine Bücher sind mittlerweile in mehr als 60 Sprachen übersetzt. In deutscher Sprache sind bislang 13 Romane und Essaybände erschienen.
Ob ihn der Nobelpreis verändert habe, fragte kürzlich ein Gast bei einer Lesung in Washington. "Ich habe meinem Verleger immer gesagt: Der Nobelpreis wird nichts verändern. Mittlerweile muss ich zugeben, dass das nicht stimmt. Es ändert alles", sagte Pamuk und fügte ironisch hinzu: "Ich kann es aber jedem nur empfehlen."
Eigentlich wollte Orhan Pamuk Maler werden. Als Sohn einer Ingenieursfamilie entschied er sich allerdings zunächst für ein Architekturstudium, wechselte dann zur Journalistik. Zu diesem Zeitpunkt herrschte in der Türkei politisches Chaos: Extreme linke und rechte Flügel prallten aufeinander, schließlich putschte das Militär und übernahm die Macht. "Schreiben ist die Möglichkeit, mit Worten die Stimme zu erheben, Malerei hingegen bedeute Stummheit, und ich war geistig nicht so weit, diese Stummheit in Würde auszuhalten", erklärte Pamuk seine damalige Entscheidung in einem Zeitungsinterview.
Gemalte Romane
Seine Liebe zur Malerei ist dennoch deutlich zu spüren: Die Beobachtungen und Beschreibungen sind häufig so detailliert und von Lichtstimmungen bestimmt, dass der Leser die Szenen quasi vor Augen hat. "Ich schaffe Gemälde", sagt Pamuk. "Aber ich bin nicht nostalgisch. Natürlich wünsche ich mir beispielsweise die schlimmen politischen Zustände der 70er Jahre nicht zurück oder die damalige Ausbeutung von Arbeitern." Vielmehr möchte er die Veränderungen aufzeigen, den "Horror des Wachstums", mit einem Bevölkerungszuwachs in Istanbul von einer Million Einwohner 1950 zu den heutigen 15 Millionen.
Sein kritischer Blick auf seine Heimat hat Pamuk oft den Zusatz "politischer Autor" eingebracht, eine Bezeichnung, die er selbst nur bedingt teilt. Besonders eingeschlagen hatte 2002 sein Buch "Schnee", dass 2005 auch in deutscher Übersetzung erschien. Hier entfacht Pamuk einen Konflikt rund um ein Kopftuchverbot zwischen türkischen und kurdischen Nationalen, der Armee und islamischen Fundamentalisten. In einem Zeitungsinterview sagte er später: "Die kleine Stadt Kars, in der meine Handlung spielt, sollte eigentlich als Mikrokosmos der Türkei verstanden werden. Nach den Attentaten auf das World Trade Center begann ich zu verstehen, dass die Probleme der Türkei die Probleme der Welt wurden. Und dass die Regierungen der Welt genauso reagierten wie die alte türkische Machtelite: Die einzige Antwort, die sie auf den Aufstieg des politischen Islams hatten, waren Bomben."
Trotz Morddrohung standhaft
Auch wenn Pamuk seine Bücher nicht als politisch ansieht, vertritt er als Schriftsteller doch deutlich seine Meinung und unterstützt zahlreiche Kampagnen: gegen Mega-Staudämme in der Türkei, gegen die Buchhandelsgroßmacht Amazon oder für mehr Meinungsfreiheit in Russland. Als er in einem Zeitungsinterview 2005 den türkischen Massenmord an den Armenieren im Ersten Weltkrieg kritisierte, wurde er wegen "öffentliche Herabsetzung des Türkentums" angeklagt. Zeitweise war Orhan Pamuk aufgrund von Morddrohungen auf Personenschutz angewiesen und trat 2006 - obwohl stets eng mit Istanbul verbunden - eine Professor an der Columbia University in New York an, wo er seitdem regelmäßig unterrichtet.
Doch sein Herz, das wird in seiner Literatur mehr als deutlich, hängt an Istanbul. Das spürt man auch in jeder Zeile von "Diese Fremdheit in mir". Der Titel stammt übrigens nicht von ihm selbst, sondern aus einem Gedicht des 1850 verstorbenen britischen Dichters William Wordsworth. Er gehört zu Orhan Pamuks Lieblingspoeten – denn beide teilen das Gefühl für Romantik.