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PolitikEuropa

Verpasste Chancen, neue Konflikte

2. Oktober 2020

Die deutsche Einheit war nicht nur der Endpunkt des kalten Krieges. Sie war auch der Beginn einer Ära neuer Beziehungen. Die begann mit großen Hoffnungen - und führte in einen kalten Frieden.

Berlin Protest gegen Auflösung des INF-Vertrages
30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges tun sich neue Konfliktlinien aufBild: picture-alliance/dpa/P. Zinken

Den Puls der internationalen Beziehungen fühlt man in Deutschland am besten auf der Münchener Sicherheitskonferenz. In den vergangenen Jahren konnte man zweierlei beobachten: Zwar lösten sich weiterhin hochrangige Politiker aus Ost, Fernost und West auf den Podien ab. Aber sie schienen sich immer weniger zuzuhören, geschweige denn aufeinander einzugehen. Fest steht: Die Beziehungen zwischen Europa und Amerika sind schwer belastet; die des Westens zu Russland sind zerrüttet, geprägt von abgrundtiefem Misstrauen. Und das Verhältnis zwischen den USA und China wird schon als neuer Kalter Krieg beschrieben.

Steinmeier kritisiert Russland, China und die USA

01:32

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Insofern ist es nicht ohne Ironie, dass in diesem Februar der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama auf der Sicherheitskonferenz auftrat. 1989 hatte Fukuyama angesichts der Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa den endgültigen Sieg der liberalen Demokratie verkündet - und damit das "Ende der Geschichte", wie sein vielzitiertes Buch hieß. Freimütig gibt Fukuyama drei Jahrzehnte später in München zu, nicht alle seine Prognosen hätten sich erfüllt.

Proklamierte das "Ende der Geschichte": Francis FukuyamaBild: picture-alliance/DPR

Dass die Welt weit von einem "Ende der Geschichte" entfernt ist, zeigt schon ein Blick auf die Rüstungsausgaben: Die sind nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI 2019 weltweit stärker gestiegen als in den letzten zehn Jahre zuvor. Spitzenreiter sind nach wie vor die USA, gefolgt vom neuen geostrategischen Rivalen China. Russland steht mit großem Abstand an vierter Stelle.

Großer  Optimismus

Angesichts dieser Zahlen kann man sich kaum das "große Gefühl des Optimismus" vorstellen, von dem der Historiker Konrad Jarausch spricht, wenn er auf das - zeitweilige - Ende der Blockkonfrontation vor 30 Jahren zurückblickt. "Die Zukunft war gestaltbar. Und es schienen sich große positive Möglichkeiten im vereinigten Deutschland, aber auch in den Nachbarländern zu eröffnen", sagt der ehemalige Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam der DW. "Und ein Teil davon ist ja auch eingetroffen: in der Demokratisierung Osteuropas, in der wirtschaftlichen Entwicklung."

Der Historiker Konrad Jarausch lebt heute in den USABild: ZZF

Die Luft hing voller Verheißungen und Hoffnungen. Auf Konferenzen wurden kühne Pläne geschmiedet. Der damalige sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow entwarf die Vision vom "gemeinsamen europäischen Haus", in dem alle Bewohner gleiche Sicherheit genießen. Im November 1990 unterschrieben 34 Staatschefs auf einem Sondergipfel der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, KSZE, die Charta von Paris. Feierlich wurde da die Teilung Europas für beendet erklärt.

Statt Überwindung der Teilung Verschiebung der Teilungslinie

Horst Teltschik war damals in Paris dabei, als enger Berater des deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Im DW-Gespräch erinnert sich Teltschik an den Moment nach der Unterzeichnung: "Gorbatschow stand auf und sagte: 'Unsere Aufgabe ist es, von der Diktatur zur Demokratie zu gehen und von der Kommandowirtschaft zur Marktwirtschaft.' Diese Prinzipien sind in der Charta verankert."

Der KSZE-Gipfel in Paris: Große Pläne für eine europäische SicherheitsarchitekturBild: dpa

Von dieser Aufbruchstimmung ist wenig geblieben. Der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher stellte vor fünf Jahren in einem Gastkommentar für die DW zum 25. Einheitsjubiläum nüchtern fest: "Es scheint, als wollten manche gar nicht die Überwindung der Teilung, sondern nur eine Verschiebung der Teilungslinie aus der Mitte Europas in Richtung Osten." 

Möchte man wissen, wen Genscher hier gemeint haben könnte, hilft ein Blick in ein 2009 veröffentlichtes Buch von Mary Elise Sarrotte. Die US-Historikerin hat interne Akten der damaligen Regierung von George Bush senior gesichtet. Ihr Schluss: Anstelle einer neuen kooperativen Sicherheitsstruktur inklusive der Sowjetunion habe Washington bewusst eine NATO-Lösung forciert – und damit eine exklusive Sicherheitsordnung ohne Moskau, basierend auf einer dauerhaften US-Militärpräsenz in Europa. Über den Kalten Krieg hinaus sollte die US-Dominanz in Europa gesichert werden. Zu den erhellenden Momenten dieser Zeit gehört der Washington-Besuch des tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Vaclav Havel im Februar 1990. Sarotte erinnert in ihrem Buch an den Schock, den der ehemalige Bürgerrechtler auslöste, als er den Abzug aller ausländischen Truppen aus Europa forderte.

NATO geht nach Osten

Keine politische Entscheidung dürfte das Verhältnis zu Russland so gestört haben wie die Erweiterung der NATO nach Osten, beginnend Ende der 1990er Jahre. Beim politischen Ringen um die Bedingungen der Einheit hatten Kohl und Gorbatschow noch ausdrücklich vereinbart, dass bei einer Wiedervereinigung Deutschland als souveränes Land Mitglied der NATO bleiben könne, allerdings ohne NATO-Truppen auf dem Gebiet der DDR zu stationieren. Über eine weitere mögliche Ausdehnung nach Osten sei zwischen Gorbatschow und Kohl überhaupt nicht gesprochen worden, erinnert sich Kanzlerberater Teltschik. Denn "im Sommer 1990 hat niemand daran gedacht, dass ein Dreivierteljahr später sich der Warschauer Pakt auflösen werde und eineinhalb Jahre später sogar die Sowjetunion".

Zeitzeuge Horst TeltschikBild: picture-alliance/ picturedesk.com/C. Müller

Historiker erinnern an Versprechen von US-Präsident Bush und seines Außenministers James Baker, in partnerschaftlichem Geist eine inklusive, paneuropäische Sicherheitsarchitektur aufzubauen. Dass die Osterweiterungen des westlichen Militärbündnisses in Russland als Betrug am kooperativen Geist von 1990 empfunden werden mussten, war auch vielen amerikanischen Politikern klar: In einem offenen Brief warnten im Juni 1997 mehr als 40 ehemalige Senatoren, Regierungsmitglieder, Botschafter, Abrüstungs- und Militärexperten den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton. Die NATO-Osterweiterung, hieß es da, werde die undemokratische Opposition stärken und die Reformkräfte schwächen.

Putin in München

Einen Einblick in die russische Befindlichkeit gab Präsident Wladimir Putin bei seinem Auftritt bei der Münchener Sicherheitskonferenz 2007. Die NATO-Osterweiterung sprach er in seiner Rede an, die militärischen Alleingänge der USA ohne Mandat des Weltsicherheitsrates wie etwa im Irak, den Aufbau eines Raketenabwehrsystems in Osteuropa und vieles mehr. Aus Sicht von Horst Teltschik war Putins Rede "die Summe aller seiner Probleme, die er mit dem Westen, mit der NATO hatte".

Wladimir Putin 2007 in München: Viele Klagen, keine ReaktionBild: AP

Der ehemalige Kanzlerberater war 2007 Leiter der Sicherheitskonferenz. "Die NATO, die Europäer, die USA hätten Putin einladen müssen: Lasst uns jetzt alle zusammensetzen und die Liste deiner Bedenken besprechen", ist Teltschik heute überzeugt. Aber nichts geschah. Auch Frank-Walter Steinmeier, damals Außenminister und heute Bundespräsident, sei bei seinem Auftritt am nächsten Tag mit keinem Wort auf die Rede Putins eingegangen, erinnert sich Teltschik. "Ich glaube, das war die erste tiefe Enttäuschung von Putin: dass alle da waren und keiner reagiert hat."

Teltschik, mittlerweile 80 Jahre alt, hat 2019 ein Buch vorgelegt: "Russisches Roulette – Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden". Darin versucht er eine Erklärung, warum die Hoffnungen der Nach-Wende-Zeit auf eine dauerhafte Friedenslösung nicht erfüllt wurden. Und ohne Russlands Aggression der letzten Jahre zu entschuldigen, macht Teltschik eines deutlich: Zumindest in Teilen seien sie auch Reaktion auf das Verhalten des Westens.

Der Drache erwacht

Vielleicht war der Westen, waren die USA hochmütig geworden im Überschwang des Eindrucks, den Systemwettbewerb gewonnen zu haben. "Für eine gewisse Zeit um das Jahr 2000 herum waren die USA die einzig verbliebene Supermacht", erklärt der Historiker Jarausch. "Die Russen kämpften mit ihren eigenen Schwierigkeiten und der Kommunismus schien überwunden." Nicht im Blick habe man aber die Modernisierung der asiatischen Form des Kommunismus gehabt, sagt Jarausch mit Blick auf China.

Ära Xi Jinping: Unterdrückung nach Innen, Aggression nach außenBild: picture-alliance/Xinhua/Wang Ye

Lange wurde das Land vor allem als riesiger Markt betrachtet und als Werkbank des Westens. An Chinas wirtschaftlicher Aufholjagd haben in den letzten 30 Jahren viele gut verdient, vor allem deutsche Unternehmen. Und es herrschte das Kalkül: Wenn sich in China erst einmal Mittelschichten entwickeln, dann werden die irgendwann Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einfordern – und bekommen.

Es kam anders. Seit Xi Jinping Staats- und Parteichef ist, steuert China im Innern massiv in Richtung Repression und tritt nach außen deutlich aggressiver auf. Stichworte sind etwa Xinjiang oder Hongkong, Südchinesisches Meer oder Taiwan. Nüchtern analysiert der Berliner Politikwissenschaftler Eberhard Sandschneider: "Wenn sich ein Land mit 1,4 Milliarden Menschen über 38 Jahre im Durchschnitt wirtschaftlich zweistellig entwickelt, dann ist dieses Land irgendwann in der Lage, seine ökonomische Leistungsfähigkeit auch in politischen Einfluss und am Ende auch in militärische Schlagkraft zu übersetzen."

China: Ökonomische Kraft wird militärische MachtBild: picture alliance/Photoshot/L. Xiao

Xi Jinping hat ehrgeizige Ziele für sein Land formuliert. Bis zum 100. Gründungstag der Volksrepublik China 2049 soll China eine ausgereifte, moderne, sozialistische Macht sein mit der Fähigkeit, Regeln zu setzen und zu gestalten, wirtschaftlich und technologisch an der Weltspitze. Der Führungsanspruch, erklärt der Chinawissenschaftler Sebastian Heilmann, sei klar formuliert: China wolle wieder ins Zentrum der Weltordnung hinein. "Und das steht natürlich im Konflikt zur bisherigen Hegemonialmacht USA", stellt Heilmann klar.

Neue Spaltung der Welt

Heilmann hält eine Aufteilung der Welt in zwei Hemisphären für möglich. Wobei Heilmann da nicht nur an Herrschaftsordnungen denkt, sondern auch an Technologie: "Wir müssen damit rechnen, dass wir in Zukunft Technologie mit völlig anderen Standards, völlig anderen Praktiken in der Umsetzung haben werden. Ich spreche da von Techno-Sphären, wo völlig unterschiedliche Standards, Firmen und Regularien dominieren."

Der neue Ost-West-Konflikt wird auch um den Telekom-Ausrüster Huawei ausgetragenBild: picture-alliance/dpa/R. Vennenbernd

Die Entflechtung der westlichen und der chinesischen Welt hat schon begonnen und ist mit dem Stichwort "Decoupling" verbunden, der von US-Präsident Donald Trump angekündigten Entkoppelung der Wirtschaften beider Staaten. Der Versuch, die beiden größten Volkswirtshaften der Welt zu entflechten, wird große Verwerfungen nach sich ziehen, ist Eberhard Sandschneider überzeugt. Er sieht in diesem Prozess das Ende der Globalisierung, wie wir sie kennen.

Wie am Ende der Konflikt zwischen der aufsteigenden Macht und der bestehenden Führungsmacht ausgetragen wird, ist offen. Ein neuer Kalter Krieg, der nicht die Schwelle zur militärischen Konfrontation überschreitet, scheint da noch eins der positiveren Szenarien.

Übrigens: Francis Fukuyama fiel bei seinem Auftritt bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar nur China als mögliche Alternative zur liberalen Demokratie ein. Aber, gibt der US-Politikwissenschaftler zu bedenken, "die Leute leben nicht gerne in autoritären Staaten". Sollte China in 20 Jahren tatsächlich reicher sein als die USA - und immer noch stabil, dann, sagt Fukuyama, "gebe ich zu, dass ich falsch lag".

 

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