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Politik

Osteuropa schafft sich ab

Norbert Mappes-Niediek
14. Dezember 2018

Fachkräftemangel im Westen und Norden Europas, Arbeitslosigkeit im Süden und Osten. "Qualifizierte Migration" ist die neue Zauberformel. Bloß, Osteuropa wird dadurch zum Verlierer, warnt Norbert Mappes-Niediek.

Norbert-Mappes-Niediek - t Korrespondent mehrerer deutschsprachiger Zeitungen in Südosteuropa
Bild: L. Spuma

Deutschland braucht Fachkräfte - vor allem, aber nicht nur, in der Pflege und im Gesundheitswesen. Was liegt da näher, als sich im benachbarten Ausland umzuschauen? Ganz gegen Einwanderung sind heute ohnehin nur noch Ewiggestrige und Rechtspopulisten. "Qualifizierte Migration" heißt das neue Zauberwort: Deutschland zeigt sich weltoffen und stürzt sich in die weltweite Schlacht um die besten Köpfe.

Was also spricht dagegen, wenn die Bundesregierung jetzt mit einem neuen Gesetz interessierten jungen Leuten etwa vom Balkan die Arbeitsaufnahme in Deutschland erleichtert? Krankenschwestern aus dem Kosovo zum Beispiel? Nichts natürlich; zumal dann nicht, wenn es, wie im Kosovo tatsächlich arbeitslose Krankenschwestern gibt, die liebend gern nach Deutschland kommen wollen. Obendrein haben, wenn es nach der Statistik geht, die meisten Neuankömmlinge schon seit langem Verwandte in Deutschland. Die Regierung im Kosovo jedenfalls steht ihrem Glück nicht im Wege. Die deutsche erst recht nicht. Es wäre eine gute Idee, ein sauberer Deal.

Osteuropa wird entvölkert

In Osteuropa allerdings wird zunehmend anders gerechnet. Zwar sind bei uns tatsächlich viele Krankenschwestern arbeitslos, hört man etwa aus dem Kosovo. Aber nicht, weil keine gebraucht würden. Es gibt nur kein Geld, sie auch anzustellen. Kein Staat in Europa gibt so wenig für Gesundheit aus wie der jüngste. Pflege dich selbst!, ist der Slogan, den die Republik ihren Kranken entgegen schmettert.

Wer kann, der geht: Der Bedarf an Pflegepersonal in Westeuropa ist großBild: Imago/photothek

Nicht nur aus den Balkanländern, auch aus den vielen der neueren Mitgliedsländern der EU ziehen junge Menschen noch immer in Scharen nach Westen. Lettland hat seit der Wende mehr als ein Viertel seiner Bevölkerung verloren, Rumänien und Litauen rund ein Sechstel, und selbst in Ungarn sind es immerhin noch sechs Prozent. In Bulgarien leben heute 22 Prozent weniger Menschen als 1990, und bis zum Jahr 2050 soll nach den aktuellen Prognosen noch einmal ein Viertel verschwinden. Verantwortlich für den Bevölkerungsverlust ist zu zwei Dritteln die Emigration. Für das restliche Drittel sorgt der Geburtenrückgang.

Perspektivlosigkeit und mangelnde Lebensqualität

Rumänien hat die niedrigste Ärzte-Dichte in der EU, Kosovo die niedrigste auf dem ganzen Kontinent. Aber im Gesundheitswesen ist das Problem nur am deutlichsten. Auch andere Branchen klagen inzwischen über Personalmangel. Dramatisch zurückgegangen ist etwa die Zahl der Bauarbeiter. In den Boom-Regionen des europäischen Ostens bleiben Bauvorhaben monatelang liegen, weil es keine Arbeiter gibt. Würde man sie besser entlohnen, würden die Wohnungen, die sie bauen, für Zuzügler vom Lande unbezahlbar - ein Teufelskreis.

Es ist nicht mehr - oder nur noch in Ausnahmefällen - die blanke Not, die die Menschen forttreibt. Man geht, weil man es kann. Im Westen locken attraktivere Ausbildungsangebote. Gerade die besser Ausgebildeten schätzen auch die internationale Atmosphäre westlicher Großstädte. Auch das Lohngefälle spielt eine Rolle, wenn auch oft nicht die entscheidende.

Komfortabel allerdings ist das Dasein etwa im deutschen Billiglohn-Sektor nun nicht. Man würde auch wieder zurückkehren. Aber was die Rückkehr nach Hause nahelegt - etwa dass die Kinder mit der Muttersprache groß werden können oder dass die eigenen Eltern langsam alt werden -,  steht handfesten Nachteilen gegenüber. Das Gehalt sinkt meist mindestens um die Hälfte. Manchmal werden selbst höherwertige Abschlüsse nicht anerkannt. Die Bürokratie ist oft träge.

Der Osten hat immer die schlechteren Karten

Rückkehrer sehen mögliche Positionen oft besetzt, von weniger gut ausgebildeten, aber viel besser vernetzten Kolleginnen und Kollegen. Gegangen sind die Offenen, Abenteuerlustigen; geblieben sind oft die Trägeren, Engstirnigeren. Wer aus abgehängten Regionen oder vom Lande kommt, vermisst nach der Rückkehr die Abwechslung, die Freizeitangebote, auch die Verlässlichkeit der Behörden und der Gerichte. Im Kampf um die besten Köpfe hat der Osten immer die schlechteren Karten.

In den osteuropäischen Ländern ist der Bevölkerungsschwund erstaunlicherweise kein großes Thema, und wenn doch, dann ein schräges. Es sind vor allem die rechten Parteien, die gegen die "weiße Pest" mobil machen, vor dem Verschwinden der Nation warnen, Frauen zurück an den Herd treiben wollen und Auswanderung in den Geruch des Landesverrats stellen. Die Modernen, Reformorientierten dagegen halten sich mit Kritik zurück - wohl auch weil viele selbst von Zeit zu Zeit mit dem Gedanken spielen, anderswo ihr Glück zu versuchen.

Inzwischen machen sich in Ost- und Südosteuropa auch die Bauarbeiter rar. Bild: picture-alliance/dpa/B. Roessler

Dabei ist Handeln geboten. Wenn ganze Regionen sich leeren, Dörfer von der Natur zurückerobert werden, Rentensysteme implodieren und niemand mehr da ist, um der alternden Bevölkerung den wachsenden Pflegebedarf zu stillen, wird daraus über kurz oder lang ein Problem der ganzen Europäischen Union.

Probleme von morgen

Strukturpolitik mag an erster Stelle ein Problem der einzelnen Mitgliedsstaaten sein. Der Appell nützt allerdings wenig, wenn den Staaten die Mittel fehlen, ihre Regionen auch wirklich zu fördern. Das Entwicklungsmodell der Nachwendezeit, massenhafte ausländische Investitionen, hält für den Bevölkerungsrückgang keine Lösung bereit: Steigen die Löhne, so bleiben zwar (vielleicht) die Arbeiter. Die Investoren aber ziehen weiter. Und die niedrigen Steuern, mit denen sie ins Land gelockt wurden, fehlen den Staaten, wenn es darum geht, abgehängte Regionen wieder lebenswert zu machen.  

Ein Europa, das sich über Arbeitskräfte aus dem Osten freut, wird sich früher oder später auch um die Zurückgebliebenen sorgen müssen. Beginnen könnte es damit, den Kohäsionsfonds der EU im nächsten Finanzplan zu stärken statt zu kürzen. Und seine Mittel nicht mehr pro Kopf, sondern nach Region zu verteilen. Es wäre ein Anfang.

Norbert Mappes-Niediek lebt im österreichischen Graz und ist Südosteuropa-Korrespondent zahlreicher deutschsprachiger Zeitungen.

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