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PolitikNahost

Drohende Zwangsräumung in Ostjerusalem

1. August 2021

Sie haben Angst um ihre Zukunft. In Ostjerusalem droht mehreren palästinensischen Familien die Zwangsräumung. Die Entscheidung des obersten Gerichtes in Israel könnte im Nahen Osten für neue Spannungen sorgen.

Israel I Sheikh Jarrah in Jerusalem
In dieser Straße in Sheikh Jarrah droht mehreren Familien die ZwangsräumungBild: Taina Kraemer/DW

An diesem Montag könnte das Oberste Gericht in Israel über die Zukunft der Familie von Muna al-Kurd entscheiden. Gemeinsam mit drei anderen palästinensischen Familien, die im Viertel von Sheikh Jarrah im annektierten Ostjerusalem wohnen, sind sie von der Zwangsräumung bedroht. Einige Tage vor der Entscheidung, nimmt die 23 Jahre alte Universitätsabsolventin ein kurzes Video für die sozialen Netzwerke vor ihrem Haus auf. "Alle Möglichkeiten liegen auf dem Tisch. Sie könnten unseren Einspruch ablehnen, das würde einer Zwangsräumung gleichkommen. Oder sie könnten die Entscheidung noch einmal vertagen", sagt al-Kurd, deren Familie das Haus, in dem sie seit den 1950er Jahren lebt, verlieren könnten. "Ich glaube, dass die Entscheidung zugunsten der Siedler ausfallen wird, und nicht zu unseren Gunsten", fügt die Palästinenserin hinzu und schaut auf die gegenüberliegende Straßenseite. Dort sind national-religiöse Siedler vor rund zehn Jahren eingezogen. 

Das Gesicht des Protestes: Muna el-Kurd (Mitte) im Juni 2021 nach der Teilnahme an einem Solidaritäts-MarathonlaufBild: Maya Alleruzzo/AP/picture alliance

Bereits zu Beginn des Jahres hatte ein Bezirksgericht zugunsten der Organisation "Nahalat Shimon" geurteilt und damit den Weg für die Zwangsräumung frei gemacht. Zuletzt hatten die betroffenen Familien Berufung beim Obersten Gericht eingelegt. Die Anhörung dazu wurde mehrfach verschoben, auch aufgrund der angespannten politischen Situation. Die möglichen Räumungen hatten für wochenlange Proteste gesorgt und gelten als einer der Auslöser für den 11-tägigen Konflikt zwischen Hamas und Israel in Gaza im Mai.

Wird es wirklich schon eine Entscheidung geben? 

Es ist noch unklar, ob es diesen Montag zu einer Entscheidung kommen wird. Letzte Woche hatten israelische Medien (mit Verweis auf unbenannte Regierungsquellen) spekuliert, dass die israelische Regierung möglicherweise zum jetzigen Zeitpunkt kein Interesse an Zwangsräumungen habe. Diese könnten zu erneuten Spannungen in der Stadt und Region führen. Bereits zuvor im Mai war eine Anhörung verschoben worden.

Das US-Außenministerium hatte zudem wiederholt Besorgnis über die Pläne geäußert. Unbestätigten Berichten zufolge soll Israels neuer Ministerpräsident Naftali Bennett in den nächsten Wochen Washington besuchen.

Um das Viertel ist es in den vergangenen Wochen etwas ruhiger geworden, die Medienaufmerksamkeit ist abgeebbt - aber für die Bewohner ist die stetige Ungewissheit über ihre Zukunft geblieben. "Stell Dir vor, Du bist an meiner Stelle, Du lebst in deinem Haus, mit all deinen Erinnerungen, in deinem Zuhause", sagt al-Kurd. "Und dann kommt jemand, klopft an die Tür und sagt: ´Du musst hier raus, das ist nicht dein Haus, das Haus gehört jetzt mir.´ Würdest Du das akzeptieren?", fragt die 23-Jährige, die gemeinsam mit ihrem Zwillingsbruder so etwas wie die Stimme gegen die Zwangsräumungen geworden ist - auf sozialen Netzwerken und bei Demonstrationen im Viertel. 

Langwierige Gerichtsverfahren 

Einige hundert Meter entfernt, auf einer kleinen Anhöhe, schaut Chaim Silberstein auf das Viertel. Er besucht eine jüdische Siedlungsenklave, die er vor Jahrzehnten mit aufgebaut hat. Gleich daneben liegt die Grabkammer des Hohepriesters Schimon HaTzadik (Simon der Gerechte), der hier begraben sein soll. Das Grab wird vor allem von ultra-orthodoxen Juden verehrt, die täglich zum Beten hierher kommen. 

"Dutzende jüdische Familien haben hier bis 1948 gelebt", sagt Silberstein. Nach dem arabisch-israelischen Krieg 1948, auch bekannt als Unabhängigkeitskrieg Israels, eroberte Jordanien den östlichen Teil Jerusalems, darunter auch Sheikh Jarrah. Im Sechs-Tage-Krieg 1967 eroberte Israel das Gebiet und annektierte später Ostjerusalem, um Jerusalem zur ungeteilten Hauptstadt Israels zu erklären. Ein Schritt, der international nicht anerkannt wurde. 

Palästinensischer Protest in Ramallah gegen die israelischen Angriffe auf Gaza und die Ostjerusalem-PolitikBild: Issam Rimawi/AA/picture alliance

"1948 haben die Jordanier illegalerweise den Osten von Jerusalem besetzt, auch dieses Gebiet hier. Und nach 1967 wollten die Juden, die damals von ihren Häusern, ihren Grundstücken vertrieben wurden, wieder zurückkehren. Aber die meisten konnten das nicht", erklärt Silberstein. Der Gründer der Organisation "Keep Jerusalem" setzt sich für den Aufbau eines jüdischen Viertels in Sheikh Jarrah ein, das im Hebräischen als Schimon-HaTzadik-Viertel bekannt ist. 

"Wir haben die Original-Kaufverträge gefunden, von zwei religiösen (jüdischen, d. Red.) Stiftungen, die das vier Hektar große Gebiet 1875 gekauft haben", sagt er. "Gemeinsam mit einer Gruppe von Investoren haben wir 2003 die Grundstücksrechte gekauft. Dann begann ein Prozess zur Klärung des rechtlichen Status der arabischen Mieter dieses Viertels. Und dieser Prozess durchlief die Instanzen bis zum Obersten Gericht. Und da sind wir jetzt." Die Gerichte hätten keinen Zweifel an den Besitzverhältnisse gelassen. Die Dokumente seien "authentisch, echt und gültig", fügt Silberstein hinzu. 

Ungleiche Gesetzeslage 

Menschrechtsaktivisten, darunter auch Hagit Ofran von der israelischen Organisation "Frieden Jetzt" (Peace Now), beschreiben die rechtliche Grundlage der Räumungsverfahren als diskriminierend, da Palästinenser wegen der israelischen Rechtsprechung keine Ansprüche auf Besitz stellen können, den sie im Konflikt 1948 verloren haben.

 "1950 hat Israel ein Gesetz erlassen, das Absentee Property Law, das besagt, dass Palästinenser nicht zu ihren Besitztümern in Israel zurückkehren können", so Ofran. Nach dem Sechs-Tage-Krieg und der Besetzung Ostjerusalems, fügt Ofran hinzu, erließ die Knesset ein Gesetz, das jüdischen Israelis erlaubt, ihren Besitz dort zurückzufordern.  

Die betroffene Straße in Sheikh Jarrah wird zeitweise von der israelischen Polizei abgeriegeltBild: Taina Kraemer/DW

"Das ist die Basis, oder anders gesagt, die diskriminierende Basis aller Räumungsklagen, die wir in Sheikh Jarrah oder Silwan sehen. Siedler schaffen es, den Besitz von vor '48 zu übernehmen und klagen dann die Palästinenser aus ihren Häusern", kritisiert Ofran. 

Nach Angaben von "Peace Now" sind derzeit mehr als 100 Familien von Räumungsverfahren betroffen, die meist von Siedlerorganisationen angestrengt werden und sich oft über viele Jahre hinziehen. Dies betrifft Sheikh Jarrah aber auch Silwan, ein Viertel im Süden außerhalb der Jerusalemer Altstadt.

"Das Haus ist nicht nur ein Zuhause - es bedeutet alles" 

Die Frage der Zwangsräumungen in Sheikh Jarrah hat bei vielen Palästinensern einen Nerv getroffen und spiegelt die Kernfragen des palästinensisch-israelischen Konflikts wider. Palästinenser, die Ostjerusalem als Hauptstadt eines künftigen unabhängigen Staates beanspruchen, sehen darin ein Symbol für die jahrzehntelange Besatzungspolitik Israels. Die Räumungspläne werden aber auch von der Europäischen Union, den USA und den Vereinten Nationen scharf kritisiert.

Im Krieg 1948 mussten die Al-Kurds aus der nördlichen Stadt Haifa nach Jerusalem fliehen. Jordanien und die damals neu gegründete UN-Agentur für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) siedelten mehrere Familien, die ihre Häuser in Westjerusalem und anderen Orten zurücklassen mussten, in einem Rehabilitierungsprojekt für Flüchtlinge in Sheikh Jarrah an. Im Gegenzug sollten die Familien ihren Flüchtlingsstatus aufgeben. Seit vielen Jahren bereits laufen langwierige Gerichtsverfahren jüdischer Siedlergruppen gegen einige der Familien. 

Israelische und palästinensische Aktivisten protestieren gegen die Zwangsräumung von Häusern in Ostjerusalem (Archiv)Bild: Tania Kraemer/DW

"Das Haus ist nicht nur ein Zuhause - es bedeutet alles. All die Erinnerungen, die Kinder sind hier aufgewachsen, meine Frau und ich haben hier geheiratet", sagt Nabil al-Kurd, Munas Vater. Am meisten bereitet ihm die Zukunft seiner Kinder Sorgen. Sie müssten sich hier mit Realitäten beschäftigen, "die es sonst nirgendwo auf der Welt gibt".

Die al-Kurds haben bereits einen Teil ihres Wohnhauses verloren. Vater Nabil hatte an das einstöckige Einfamilienhaus mit einem Anbau erweitert - für die Kinder. Vor zehn Jahren zog dort ein Siedler ein. "Meine Tochter hat nicht eine Nacht in dem Zimmer schlafen können", klagt Nabil al-Kurd. Nun könnte die Familie das gesamte Haus verlieren.

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