Ostukraine - Umstrittener Neustart
5. Oktober 2017Petro Poroschenko hat es eilig. Monatelang feilte der ukrainische Präsident an einem neuen Ansatz für den Umgang mit den Separatistengebieten Donezk und Luhansk. Details wurden streng geheim gehalten, nur mit westlichen Partnern gab es bis zuletzt Absprachen hinter verschlossenen Türen. Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Bereits am Donnerstag könnten die Abgeordneten in einer ersten Lesung über zwei Gesetzentwürfe abstimmen, die Poroschenko erst am Tag zuvor ins Parlament eingebracht hatte. Inoffiziell werden sie "Re-Integration"-Gesetze genannt und sollen eine Rückkehr der Bezirke Donezk und Luhansk unter Kiews Kontrolle ermöglichen.
Ähnliche Messlatte wie bei der Krim
Der erste Gesetzentwurf "über Besonderheiten staatlicher Politik" hält auf 15 Seiten fest, was viele Ukrainer für überfällig halten, aber was Kiew bisher nicht in einem Gesetz festhalten wollte: Russland soll als Aggressor und die ostukrainischen Separatistengebiete Donezk und Luhansk als "temporär besetzt" eingestuft werden. Damit würde Kiew drei Jahre nach Kriegsausbruch im Kohlerevier Donbass eine ähnliche Messlatte anlegen wie 2014 bei der russischen Annexion der Krim. Außerdem schlägt Poroschenko vor, die Friedensvereinbarungen zur Ostukraine und zu den Abkommen Minsk I und II (ausgehandelt jeweils im September 2014 und im Februar 2015 in der weißrussischen Hauptstadt - Anm. d. Red.) zu vordringlichen Aufgaben zu erklären, vor allem im Bereich Sicherheit.
Schließlich soll die umstrittene so genannte "Anti-Terror-Operation" (ATO) umbenannt und neu geordnet werden. Kritiker halten diesen Begriff für verharmlosend und überholt in einem militärischen Konflikt mit schweren Waffen. Das Wort "Krieg" taucht zwar nicht auf, stattdessen ist im Gesetzentwurf von "Aufhalten und Abwehr der russischen bewaffneten Aggression" die Rede. Den Einsatz soll künftig ein vereinigter Stab der ukrainischen Streitkräfte leiten und nicht wie bisher der Geheimdienst SBU.
Abzug von Kämpfern als Vorbedingung für Autonomie
Der deutlich kürzere zweite Gesetzentwurf zielt auf "Bedingungen für eine friedliche Lösung" in einem Stellungskrieg, dessen offizielle Opferzahl bereits die 10.000er-Marke überschritten hatte. Ein im September 2014 vom ukrainischen Parlament verabschiedetes Gesetz über einen faktischen autonomen Sonderstatus für den Donbass, das auf drei Jahre angelegt war und demnächst ausläuft, soll um ein Jahr verlängert werden; das ursprüngliche Gesetz wurde allerdings nie angewandt. Darin wird den Separatisten unter anderem eine Amnestie gewährt, Donezk und Luhansk bekommen sprachliche Selbstbestimmung, ihre Bewohner dürfen bei der personellen Besetzung von regionalen Justizorganen mitreden und eine "Volksmiliz" gründen. Eine Voraussetzung wären Kommunalwahlen, deren Durchführung ein separates Gesetz bestimmen soll, das noch nicht verabschiedet wurde. Auch eine UN-Friedensmission im Donbass wird in Poroschenkos Gesetzentwurf vorgeschlagen, allerdings nicht als Vorbedingung.
Bereits am Donnerstagmorgen ergänzte Poroschenko seinen Entwurf, offenbar um eine schnelle Abstimmung zu ermöglichen. Die neue Passage: Das Gesetz könne unter anderem erst dann in Kraft treten, wenn alle Kämpfer der "illegalen bewaffneten Verbände" den Donbass verlassen haben. Auch die Waffen, die nach Kiews Überzeugung aus Russland kommen, sollen abgezogen werden.
Ablehnung in Moskau und Donezk
In der Ukraine selbst lösten Poroschenkos Initiativen eine kontroverse Debatte aus. Der erste Gesetzentwurf stieß bisher weitgehend auf Zustimmung. Kritisiert wurde die gesetzliche Verankerung der Minsker Vereinbarungen, in denen manche Oppositionspolitiker eine Gefahr für Kiew sehen. Der parlamentarische Ausschuss für Sicherheit stimmte dem Gesetz am Donnerstag schon zu und machte damit den Weg zur Abstimmung frei. Beim zweiten Gesetzentwurf, der den Separatisten einen Sonderstatus gewährt, konnten sich die Ausschussmitglieder zunächst nicht einigen. Vor dem Parlament demonstrierten rund 300 Gegner von Poroschenkos Initiative. Die Oppositionspartei "Batkiwschtschyna" (Vaterland) der früheren Ministerpräsidentin Julia Tymoschenko sowie die Partei "Samopomitsch" (Selbsthilfe) haben bereits angekündigt, gegen die Gesetze zu stimmen.
Auch in Russland, das sich seit Beginn der Kämpfe in der Ostukraine als unbeteiligte Partei darstellt, löste Poroschenkos Initiative Kritik aus. Sie widerspräche den Minsker Vereinbarungen und blockiere den Friedenprozess, sagte am Mittwoch Boris Gryslow, Russlands Vertreter in der Minsker Kontaktgruppe. Ähnlich äußerten sich die Sprecher der Separatisten, die vor einer Eskalation des Konflikts warnten.
Experte: Lage wird zementiert
Im Westen gab es zunächst verhaltene Reaktionen. Die Bundesregierung wollte sich zu dem Gesetzentwurf, das unter anderem Russland als Aggressor in der Ostukraine einstuft, nicht äußern. Ein Regierungssprecher begrüßte auf DW-Anfrage die Verlängerung des Sonderstatus-Gesetzes als einen "wichtigen Schritt bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen".
Gustav Gressel von der Brüsseler Denkfabrik European Council on Foreign Relations erwartet keinen Durchbruch nach Poroschenkos Initiative. "Auf dem Boden wird das Gesetz nichts ändern, weil Russland weder abziehen noch Minsk vollständig umgesetzt wird", sagt Gressel. Sein Kollege Balazs Jarabik, Osteuropa-Experte am Carnegie-Zentrum, ergänzt: "Das zementiert den Status Quo."