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Musik

"Beethoven ist kein Fake-Star"

Gaby Reucher
16. Januar 2020

Paavo Järvi ist einer der gefragtesten Dirigenten der Welt. Im Beethovenjahr wird er noch einmal den Zyklus aller neun Sinfonien aufführen. Warum Beethoven gerade heute so aktuell ist, erklärt er im DW-Interview.

Dirigent Paavo Järvi
Bild: picture-alliance/dpa

Der estnische Stardirigent Paavo Järvi ist unter anderem künstlerischer Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, die zu den weltweit führenden Orchestern gehört. Das "Dream Team" hat bereits mehrfach Preise für gemeinsame Einspielungen bekommen, auch für die Einspielung der neun Sinfonien von Ludwig van Beethoven. Die Deutsche Welle hat Paavo Järvi und das Orchester beim "Beethoven-Projekt" mit der Kamera begleitet. Im Interview erzählt der Dirigent, warum Beethovens Musik - und speziell seine Sinfonien – auch 2020 nicht an Aktualität verlieren und was das Geheimnis ihres Erfolgs ist.

DW: Mit ihrem Beethoven-Sinfonienzyklus "The Beethoven Project" wollten Sie vor zehn Jahren eine Interpretation seiner Sinfonien für das 21. Jahrhundert präsentieren. Was ist an Beethoven für Sie immer wieder neu?

Paavo Järvi: Beethoven betrachtete seine Sinfonien als Höhepunkt seines Schaffens. Der Reiz besteht für mich darin, zu sehen, ob sie die Zeit überdauern. Wenn man sich die Aufführung einer Beethoven-Sinfonie anhört und dann noch einmal nach zehn Jahren, ist sie dann noch interessant zu hören? Ist die Musik lebendig, und hat sie die Energie, die man in diesem Augenblick spürt? Das zu erreichen ist für mich das Ziel und der Schlüssel zu Beethovens Sinfonien.

Man spricht viel über die historische Bedeutung und speziell über die politischen Aspekte der Beethoven-Sinfonien, über seinen Einsatz für Brüderlichkeit, Fairness und Mitgefühl. Diese Botschaft wird immer wichtig sein und Bestand haben. Deshalb sehen wir Beethoven ja auch als Revolutionär. Aber als Musiker finde ich, dass auch in seiner Musik etwas steckt, das nicht altert, das sehr direkt, kompromisslos und ehrlich ist.

Was ist gerade jetzt für Sie so aktuell an seiner Musik?

Pavo Järvi dirigiert im Beethoven-Jubiläumsjahr alle Sinfonien des berühmten Komponisten Bild: Julia Baier

Wir leben in Zeiten, in denen man nicht viel von dem glaubt, was man hört. Wir zweifeln alles an. Ich denke, unser größtes Defizit ist der Mangel an Authentizität. Es gibt viele "Fake"-Stars, viele Stars und Ideen aus der Retorte. Es passiert selten, dass du jemanden sagen hörst, wie es wirklich ist, noch dazu in einer so brillanten, überzeugenden und bedeutsamen Art, dass man nicht anders kann, als zuzuhören. Genau so ist Beethovens Musik. Sie illustriert nichts, sie ist authentisch. Sie ist hier und jetzt, und es gibt keinen Weg daran vorbei. Seine Musik ist nicht direkt politisch, aber sie reagiert auf Dinge wie Ungerechtigkeit oder Falschheit.

Wie arbeiten sie diese Authentizität, die heute so wichtig ist, heraus?

Vor den Aufnahmen haben wir zehn Jahre lang an den Sinfonien gearbeitet und dann jede Sinfonie für sich aufgenommen. Wir hatten also viel Zeit, herauszufinden, was genau in der Partitur enthalten ist, wie das Orchester sitzen soll, welche Instrumente wir benutzen, ob die Metronom-Angaben stimmen, und wie viel Freiheit wir uns nehmen wollen. Alles, was wir uns vorgenommen haben, konnten wir nur erreichen, weil wir genug Zeit hatten. Weil wir ganz und gar in das Werk eingetaucht sind.

Sie haben mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen nicht nur Beethovens Sinfonien, sondern auch die von Johannes Brahms und Robert Schumann eingespielt. Mit dem Orchestre de Paris, wo sie fünf Jahre lang Chefdirigent waren, haben Sie sich den Sinfonien von Jean Sibelius gewidmet. Was bedeutet das für Sie, diese komplexen Sinfonie-Zyklen einzuspielen?

Bei manchen Komponisten hat man das Gefühl, dass ein ganzer Zyklus Sinn macht. Für uns war es logisch, alle neun Beethoven-Sinfonien einzustudieren oder die vier Sinfonien von Brahms, die vier von Schumann - und auch andere Stücke von ihnen.

Wenn man Beethovens Sinfonien als Zyklus in chronologischer Reihenfolge macht, dann hört man jede Sinfonie ganz anders als wenn man nur die Fünfte spielt. Nur die Fünfte zu spielen, ist eine große Erfahrung, aber wenn man die Fünfte direkt nach der Vierten spielt, dann ist man richtig geschockt. Es stellt sie in einen anderen Kontext. Und wenn man nach der Fünften, wo das Schicksal an die Tür klopft und sich alles um diese Art höhere Macht dreht, die Sechste vor sich hat, die "Pastorale", dann ist das plötzlich ganz naturverbunden und viel weniger heroisch und imperial. Dieser Kontext verändert die Sichtweise auf die Stücke.

Lassen sich daraus Schlüsse auf Beethovens musikalischen Werdegang ziehen?

Wir haben immer das Gefühl, das der Fortschritt logisch sein muss. Bei Beethoven ist diese Typologie nicht da. Zum Beispiel nach der dritten Sinfonie, der "Eroica", denkt man, es müsse nun etwas wirklich Erstaunliches, Einmaliges passieren. Dann kommt aber die Vierte Sinfonie, die sehr nah bei der Zweiten ist. Es ist so, als wäre er nach dem großen Durchbruch, den er mit der dritten Sinfonie geschaffen hatte, zwei Schritte zurück gegangen. Von dieser Stufe aus scheint es wie ein Rätsel, warum er die Fünfte geschrieben hat, die noch mal zehn Schritte weiter vorwärts geht als die "Eroica". Dann kommt er mit der Sechsten zu einer Art Pastorale zurück, die wie ein Spaziergang im Park wirkt. Ich vereinfache das natürlich.

Mit der Siebten Sinfonie schreibt er eine Tanz-Symphonie, was man wirklich nicht erwartet hätte. Danach einen der größten Späße, der je von einem Genie geschrieben wurde. Von Anfang an ist die Achte Sinfonie nur lustig. Und mit der Neunten kommt ein Stück, das die Musikgeschichte verändert hat, mit Chor und mit der Aussage, dass alle Menschen Brüder werden sollen. Also den logischen Fortschritt, den wir meist erwarten, den gibt es hier nicht. Es gibt eine innere Logik, aber diese Logik ist nicht so leicht zu erkennen.

Bei all diesen verschiedenen Attributen: Welche Beethoven-Sinfonie liegt Ihnen denn am meisten?

Ich mag jede von ihnen. Wenn du einmal in eine Sinfonie eingetaucht bist, wird sie zu dem Stück, das du am liebsten magst. Wenn ich zurückblicke, dann habe ich mich immer darauf gefreut, die Erste, die Zweite und die Vierte Sinfonie zu dirigieren. Sie sind frisch, extrem geistreich und dem Orchester und auch dem Publikum weniger vertraut als etwa die Fünfte, die Siebte und die Neunte. Für mich ganz persönlich ist es immer eine Freude, die Vierte zu dirigieren.

Die Fünfte ist körperlich sehr anspruchsvoll und kompliziert so umzusetzen, wie man es wirklich möchte. Ich war nie Teil einer guten Aufführung der Fünften, außer mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Es ist nicht so, dass etwas mit den anderen Orchestern nicht stimmen würde, aber ich bin mit ihnen nicht durch diese zehn Jahre des Experimentierens gegangen.

Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen mit ihrem künstlerischen Leiter Paavo JärviBild: Julia Baier

Seit 2004 arbeiten Sie als künstlerischer Leiter mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Was macht ihre Zusammenarbeit so besonders?

Die Kammerphilharmonie ist ein Orchester, das von Projekten lebt. Wir nehmen uns einen Komponisten vor und tauchen wirklich ganz in das Werk ein. Wir machen viele Zyklen, wir haben Spezialisten, die kommen und uns beraten. Wir haben einfach genug Zeit und auch wirklich lange Zeit, um uns in den Komponisten hinein zu versetzten. Bei Brahms waren es vier Jahre, bei Schumann fünf Jahre und bei Beethoven haben wir 10 Jahre gebraucht. Wie viele Orchester haben diesen Luxus, so viel Zeit für Standard-Repertoire zu investieren? Es ist eine ganz andere Art, zur Essenz eines Stückes vorzudringen.

Mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen wird Paavo Järvi im Beethoven-Jubiläumsjahr 2020 unter anderem den gesamten Zyklus der neun Beethovensinfonien in Bremen und Frankfurt noch einmal aufführen und zu Beethovens Geburtstag die Neunte in Tokio dirigieren.

Der Brahms Code - Teil 1

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