Israels neue Regierung: Palästinenser in Sorge
10. November 2022In Nablus ist so etwas wie Normalität zurückgekehrt. Geschäftiges Treiben herrscht in der palästinensischen Stadt im israelisch besetzten Westjordanland, Ladenbesitzer warten auf ihre Kunden und Obst- und Gemüseverkäufer haben ihre frische Ware auf kleinen Handkarren ausgestellt.
Dabei hatte Mitte Oktober erst die israelische Armee die Zugänge zu Nablus und seiner Umgebung weitgehend abgesperrt und strenge Kontrollen beim Verlassen der Stadt verhängt. Zuvor war im Umkreis ein israelischer Soldat von militanten Palästinensern in der Nähe einer israelischen Siedlung getötet worden.
Die vergangenen Wochen seien extrem schwierig gewesen, sagt Yousef Kandakji, ein junger Buchhändler aus dem Stadtzentrum. "Die beiden Haupteingänge nach Nablus waren geschlossen; manchmal ließ die Armee jemanden hinaus, dann aber nicht mehr zurück - oder umgekehrt," sagt er mit Blick auf die israelischen Checkpoints. "Das hat fast jede Bewegung unmöglich gemacht."
Anhaltende Spannungen
Seit März hat die israelische Armee ihre Razzien und Militäroperationen im besetzten Westjordanland - vor allem im Norden - weiter verstärkt. Im Frühjahr hatten arabische Israelis und Palästinenser mehre tödliche Terroranschläge in Israel verübt, bei denen 16 Israelis und zwei Ausländer ums Leben kamen. Seit Oktober wurden mindestens vier weitere Israelis - darunter zwei Soldaten - in Ostjerusalem und dem Westjordanland getötet.
Gleichzeitig seien in diesem Jahr mehr als 100 Palästinenser im Westjordanland vom israelischen Militär getötet worden, darunter Militante, aber auch Zivilisten und Minderjährige, so das UN-Büro für humanitäre Hilfe (OCHA). Auch die Gewalt israelischer Siedler gegenüber Palästinensern habe zugenommen. Laut UN könnte dieses Jahr für die Palästinenser das tödlichste Jahr seit 2005 in dem Konflikt werden.
Ende Oktober warnten Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien in einer Stellungnahme, dass die "anhaltenden Spannungen und steigende Zahl von Opfern auf beiden Seiten in den besetzten Palästinensischen Gebieten alarmierend" seien.
Sorge wegen Rechtsextremen in israelischer Regierung
Unterdessen schauen auch Palästinenser mit Sorge auf die sich abzeichnende neue israelische Regierung nach der Wahl vom 1. November. Israels früherer Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der mit seinem rechts-religiösen Block eine Mehrheit erzielte, plant eine Regierung mit dem rechtsextremen Bündnis "Religiöser Zionismus".
"Netanjahu will eigentlich keinen Frieden. Er will nur Zerstörung, wir kennen ihn und die Katastrophen, die er über das palästinensische Volk bringt", sagt Buchhändler Kandakji. "Und wir kennen auch Ben Gvir sehr gut." Womit der junge Palästinenser Itamar Ben Gvir meint, einen der Parteichefs des Bündnisses "Religiöser Zionismus". "Er sorgt immer für Ärger."
Andere äußern sich ähnlich. "Ben Gvir beschwört nicht gutes herauf", sagt Ayat Bustami, eine junge Palästinenserin, die in der Altstadt einkauft. "Ich wäre gerne optimistischer, aber es wird immer schwieriger."
"Kein Partner für den Frieden"
Der palästinensische Ministerpräsident Mohammed Schtaje sagt, die Wahlergebnisse zeigten, dass "wir keinen Partner für den Frieden haben". Er rief auch die internationale Gemeinschaft auf, "unser Volk vor einer aggressiven israelischen Politik mit rassistischen Parteien an der Macht zu schützen".
Mit dem Wahlerfolg der Rechtsextremen, die für die Siedlungspolitik und für eine Annexion des Westjordanlands eintreten, scheint jegliche Hoffnung auf eine Annäherung oder gar Friedensgespräche in Richtung eines palästinensischen Staates noch weiter in die Ferne gerückt als bisher. Die letzten direkten politischen "Friedensgespräche" zwischen Israelis und Palästinensern fanden 2014 unter der Schirmherrschaft des damaligen US-Außenministers John Kerry statt.
"Wir sehen nicht, dass die israelische Öffentlichkeit eine Regierung wählt, die bereit ist, sich mit dem Kernproblem zu befassen, nämlich der Besatzung des Westjordanlands, des Gazastreifens und Ostjerusalems", sagt Sam Bahour, politischer Analyst in Ramallah. "Sie ignorieren einfach den Elefanten im Raum."
Die Vereinten Nationen betrachten israelische Siedlungen im Westjordanland, das Israel 1967 nach dem Sechs-Tage Krieg erobert und besetzt hatte, als völkerrechtswidrig. Die Siedlungen unterteilen das Westjordanland quasi in voneinander isolierte Städte und machen die Aussicht auf einen unabhängigen, zusammenhängenden palästinensischen Staat immer unwahrscheinlicher.
Die zunehmende Stärke der Ultrarechten in der israelischen Gesellschaft sei beunruhigend, sagt Bahour. Aber auch nur zu einem gewissen Punkt. Denn die Politik gegenüber den Palästinensern ziehe "sich sehr konsistent durch alle israelischen Regierungen".
Sorgen auch in Ostjerusalem
Seit rund zehn Jahren demonstrieren linke israelische und palästinensische Aktivisten jeden Freitagnachmittag gegen Siedlungsaktivitäten in Scheich Dscharrah in Ostjerusalem. An diesem Freitag hat sich auch eine kleine Gruppe ultra-rechter Demonstranten mit Postern von Itamar Ben Gvir auf der gegenüberliegenden Straßenseite versammelt.
Das Wahlergebnis müssen einige hier noch verarbeiten, sagt die israelische Aktivistin Ada Bilu. "Dass Leute wie Ben Gvir 14 Mandate im Parlament bekommen, mit ihrem furchtbaren, rassistischen Schwarz-Weiß-Denken, ist einfach nur furchtbar", sagt Bilu. "Ich sehe nur, wie sich die Siedler ziemlich mächtig fühlen", sagt Amir, ein anderer Aktivist, mit Blick auf die Gegendemonstration.
Über die letzten zehn Jahre haben Siedlerorganisationen die Kontrolle über vier Häuser von Palästinensern in dem Viertel gewonnen; etwa 75 weitere Familien sind von Räumungsklagen bedroht, so die israelische Nichtregierungsorganisation Ir Amim. Die Siedler behaupten, sie würden nur das Eigentum jüdischer Einwohner zurückfordern, die dort bis 1948 gelebt hatten - bis Jordanien im ersten Krieg nach der Staatsgründung Ostjerusalem zeitweise erobert hatte.
Die potentielle Räumung der Häuser mehrerer palästinensischer Familien gilt als einer der Faktoren, die den elftägigen Krieg zwischen Hamas und Israel in Gaza im Mai 2021 auslösten.
Erneute Eskalationen befürchtet
Itamar Ben Gvir, der Innenminister werden will, unterstützt die Siedler in Scheich Dscharrah. Oft gab es hier Auseinandersetzungen zwischen palästinensischen Einwohnern und israelischen Nationalisten. Als Parlamentsabgeordneter der israelischen Knesset hat Ben Gvir bereits zweimal sein "Abgeordnetenbüro" nach Scheich Dscharrah verlegt - eine Provokation für die Einwohner hier. "Er hat seinen Tisch vor unsere Tür gestellt und geht jetzt nicht mehr weg", sagt Fatima Salem, deren Haus von einer - vorübergehend ausgesetzten - Räumungsanweisung bedroht ist. Sie ist besorgt, dass die neue Regierung die Siedler noch mehr bestärken könnte. "Nur Gott weiß, was als nächstes hier passiert."
Aus einem anderen Teil Jerusalems ist auch Jawad Siyam zur Demonstration gekommen. Vor drei Jahren hatten Siedler nach einem jahrelangen Gerichtsverfahren einen Teil des Hauses seiner Familie übernommen. "Unter den Israelis ist nun die Rechte stark, und das letzte, was von der israelischen Linken übrig ist, hat keine Stimme mehr", sagt Siyam. "Wahrscheinlich wird alles noch schwieriger. Aber wieviel schlimmer kann es eigentlich noch werden?"