1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Palästinenserhilfswerk droht der Kollaps

19. November 2020

Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) schlägt Alarm: Es befinde sich kurz vor der Zahlungsunfähigkeit. Sozialleistungen für hunderttausende Flüchtlinge stehen auf der Kippe.

UN Interner Untersuchungsbericht listet Fehlverhalten von UNRWA-Mitarbeitern auf | Lebensmittel
Bild: AFP/S. Khatib

Die Uhr stehe auf kurz vor zwölf: Mehrere tausend Jobs könnten verloren gehen, wenn sich die finanzielle Situation des Hilfswerks der Vereinten Nationen für die palästinensischen Flüchtlinge ("United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East", UNRWA) nicht umgehend verbessere, erklärte der Generalsekretär des Flüchtlingshilfswerks, Philippe Lazzarini, in einem Interview mit der Deutschen Welle.

 "Wir haben derzeit die niedrigste finanzielle Ausstattung seit Jahren. Damit liegt sie sogar unter dem Budget von 2018", so Lazzarini im DW-Gespräch. Im September 2018 hatten die USA als bislang größter Geldgeber alle Zahlungen an das Hilfswerk eingestellt. "Wir hoffen sehr, dass sich unsere finanzielle Situation verbessert. Wir versuchen derzeit mit allen Möglichkeiten, die Funktionsfähigkeit der UNRWA aufrechtzuerhalten. Wenn die kalkulierten Gelder nicht eintreffen, bedeutet das, dass wir unsere Dienste nicht mehr leisten können. Das wollen wir nach Möglichkeit verhindern."

Bereits in der vergangenen Woche hatte Lazzarini auf die dramatische Finanzsituation der UNRWA hingewiesen. Für die Monate November und Dezember sehe das Hilfswerk einer Finanzierungslücke von 70 Millionen Dollar (knapp 60 Millionen Euro) entgegen. Damit sei die Auszahlung der Gehälter der rund 28.000 Angestellten des UNRWA bedroht. Sie müsste ins nächste Jahr verschoben werden. Die meisten Angestellten sind selbst Flüchtlinge.

Investition in die Zukunft: Eine Lehrerin weist einen palästinensischen Jungen im Gaza-Streifen in seine neue, UNRWA-finanzierte Schule einBild: picture-alliance/dpa/M. Talatene

Verheerende Auswirkungen

Das Hilfswerk unterstützt palästinensische Flüchtlinge im Gazastreifen, in Ost-Jerusalem und im Westjordanland, dazu im Libanon und in Jordanien.

Am schlimmsten von dem Zahlungsausfall betroffen dürfte der Gazastreifen sein. Dort liegt die Wirtschaft ohnehin bereits am Boden, ein Umstand, unter dem insbesondere junge Menschen zu leiden haben. Gut jeder Zweite in Gaza ist arbeitslos, rund 13.000 Menschen beziehen ein Gehalt von der UNRWA. Damit ist sie dort der größte Arbeitgeber. "Die Bevölkerung dort ist weitgehend von internationalem Beistand abhängig", so Lazzarini.

Not droht auch den Flüchtlingen im Libanon. Dort leben rund 174.000 palästinensische Flüchtlinge (Stand Januar 2019). Sie haben einen eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt und zum Landerwerb. Seit Monaten leidet der Libanon unter einer Wirtschaftskrise, der schwersten seit dem libanesischen Bürgerkrieg in den 1980er Jahren. Nochmals verschärft hat sich die Situation durch die Explosion im Beiruter Hafen Anfang August dieses Jahres. Während weite Teile der libanesischen Bevölkerung in immer größere Schwierigkeiten geraten, sind die Palästinenser in noch viel stärkerem Maß ökonomisch verwundbar. Bis zu 90 Prozent der Flüchtlinge sind von der Unterstützung durch die UNRWA abhängig. Die Not verschärft sich zudem durch die rund 1,5 Millionen syrischen Flüchtlinge, die sich derzeit im Libanon aufhalten.

Schwierige Heimat Libanon: das palästinensische Flüchtlingslager Shatila in BeirutBild: Mona Naggar

Finanziert durch freiwillige Beiträge

Die UNRWA finanziert sich beinahe vollständig über freiwillige Beiträge von UN-Mitgliedsstaaten sowie der Europäischen Union. Im Laufe der Zeit habe die finanzielle Unterstützung jedoch nicht mit der steigenden Nachfrage nach Dienstleistungen der UNRWA Schritt gehalten, heißt es in einer Informationsschrift der Agentur. Der wachsende Bedarf beruhe auf der zunehmenden Zahl an registrierten Flüchtlingen, der verschärften Armut und den zahlreichen Krisen im Einsatzbereich der UNRWA, darunter in Syrien, dem Libanon und in Gaza. Folglich sei das Kernbudget der UNRWA seit Jahren unterfinanziert.

Das Flüchtlingshilfswerk wurde 1949 gegründet und nahm am 1. Mai 1950 seine Arbeit auf. Ursprünglich war es mit einem einjährigen Mandat ausgestattet, direkte Hilfs- und Arbeitsprogramme für Palästina-Flüchtlinge umzusetzen - solange, bis eine gerechte und dauerhafte Lösung der Palästina-Flüchtlingsfrage gefunden wäre. Heute ist UNRWA eine der größten Unterorganisationen der Vereinten Nationen.

Führungs- und Finanzkrise in den Vorjahren

Das UNRWA hat eine schwierige Zeit hinter sich. Im November vergangen Jahres war der damalige Generalsekretär Pierre Krähenbühl nach schweren Vorwürfen wegen seines Führungsstils von der Spitze des Hilfswerks zurückgetreten. Zuvor hatte die Führung der UN Krähenbühl nach dem Erhalt eines internen Berichts Missmanagement vorgeworfen. Zudem hatte unter anderem der arabische TV-Sender "Al Dschasira" von internen Beschwerden über den 53-Jjährigen und andere UNRWA-Führungskräfte berichtet. Sie hätten ihre Macht für persönliche Zwecke missbraucht und abweichende Meinungen unterdrückt. Nach einer Untersuchung deutete aber nichts auf Betrug oder Unterschlagung von Hilfsgeldern durch den Schweizer hin.

In wirtschaftliche Not war das UNRWA bereits zuvor geraten: Im Jahr 2018 hatte der amerikanische Präsident Donald Trump die US-Beiträge - jährlich über umgerechnet 276 Millionen Euro - ausgesetzt. Die Regierung in Washington stieß sich an der UN-Resolution zur Gründung der UNRWA. Diese verweist auf eine weitere Resolution, in der die Palästinenser ihr Recht auf Rückkehr in ihre alte Heimat verbrieft sehen. Israel und der Trump-Administration war und ist dieser Passus ein Dorn im Auge.

Hoffen auf Joe Biden

Hoffnungsträger auch für das UNRWA: der designierte US-Präsident Joe BidenBild: Leah Millis/REUTERS

Nun richten sich die Hoffnungen der Palästinenser wie auch der Mitarbeiter des Hilfswerks auf den designierten US-Präsidenten Joe Biden. "Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die Bereitschaft besteht, die langjährige Partnerschaft zwischen der US-Administration und dem UNRWA wieder herzustellen", so Philippe Lazzarini. Bis dahin wolle man versuchen, die bisherigen Spender zur Kompensation der drohenden Ausfälle zu bewegen. "Die Fortsetzung unserer Arbeit ist derzeit gefährdet", so Lazzarini.

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika