Keine Pressefreiheit in der Türkei
1. März 2017"Wer kritisch berichtet, landet hinter Gittern", konstatiert Carl-Eugen Eberle. Der Medienrechts-Experte leitet den deutschen Ableger des International Press Institut (IPI) in Wien, eines weltweit tätigen Netzwerks von Verlegern, Journalisten und Medienleuten. IPI hat sich den Schutz der Pressefreiheit auf die Fahnen geschrieben, und agiert, ähnlich wie die Menschenrechtsorganisationen "Writers-in-Prison" oder "Reporter ohne Grenzen", mit Apellen, Briefen und Reisen in einschlägigen Ländern.
Seit dem Putschversuch im Juli 2016 und dem darauf verhängten Ausnahmezustand hat sich IPI zufolge die Lage der Pressefreiheit in der Türkei drastisch verschlechtert. "Reporter ohne Grenzen" spricht gar von einer "Repression in ungekanntem Ausmaß". Unter dem Vorwurf, Terror zu propagieren oder die Bevölkerung aufzuwiegeln, wurden Journalisten und Autoren wie Yücel verhaftet. Derzeit sitzen IPI zufolge rund 150 Journalisten in türkischen Gefängnissen. Die türkische Journalistenplattform P24 spricht von 140, das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) zählt immerhin noch "mehr als 80", die türkische Regierung will lediglich 30 inhaftierte Journalisten gelten lassen.
Türkische Verfassung garantiert Pressefreiheit
Nicht nur der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hat die Inhaftierung Yücels inzwischen scharf verurteilt. "Wir können in Deutschland nicht nachvollziehen, warum diese Attacke auf die Pressefreiheit notwendig ist. Uns fehlt das Verständnis", so Gauck. Dabei liegen Deutschland und die Türkei in Sachen verfassungsrechtlich garantierter Presse- und Meinungsfreiheit gar nicht so weit auseinander. In Abschnitt X der türkischen Verfassung heißt es: "Die Presse ist frei, Zensur findet nicht statt. (…) Der Staat trifft die Maßnahmen zur Gewährleistung der Presse- und Informationsfreiheit." Der gleiche Artikel stellt jedoch auch Nachrichten oder Schriften unter Strafe, wenn sie "die innere und äußere Sicherheit des Staates, die unteilbare Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk" bedrohen oder wenn sie "zur Begehung einer Straftat oder zu Aufstand oder Aufruhr ermuntern oder im Zusammenhang mit geheimen Informationen des Staates stehen".
Weitere Einschränkungen hält das Strafgesetz parat, zumal in Artikel 301, der bis zu seiner Änderung im Jahr 2008 die "Beleidigung des Türkentums", der Republik und bestimmter staatlicher Institutionen unter Strafe stellte. Prominente Opfer dieser Vorschrift waren der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk und Hrant Dink. Der türkische Zeitungsverleger armenischer Abstammung wurde 2007 ermordet. Pamuk wie Dink hatten über den Genozid an den Armeniern in den Jahren 1915 und 1916 geschrieben. Sie wurden darauf der Beleidigung des Türkentums bezichtigt. Ihre Verurteilungen bezeichnete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) später als einen "Verstoß gegen das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung". Die Straßburger Richter verurteilten den türkischen Staat auch wegen Mitverantwortung am Tod von Dink.
Druck der EU führte zu neuen Gesetzen
Dieses Verfahren spielte, wie der türkische Jurist Fikret Ilkiz schreibt, eine Schlüsselrolle für Bemühungen der Türkei, der EU entgegenzukommen und ihre Gesetzgebung den EU-Standards für den Schutz der Presse- und Meinungsäußerung anzupassen. Die Strafvorschriften wurden 2008 leicht geändert: Die Begriffe "Türkentum" und "Republik" machten der "Türkischen Nation" und der "Republik Türkei" Platz. Verfahren nach Artikel 301 durften nur noch mit Erlaubnis des Justizministers eröffnet werden. Die Höchststrafe wurde von drei auf zwei Jahre herabgesetzt. Insgesamt ging die Zahl der Strafverfahren, die unter Berufung auf Artikel 301 eröffnet wurden, wie Ilkiz glaubt, seither zurück. Die "Herabsetzung" der Nation, der Regierung oder auch der Streitkräfte blieb jedoch strafbar.
Auf Druck der EU runderneuerte die Türkei 2004 auch ihr altes Pressegesetz aus dem Jahr 1950. Neu geregelt wurden Informantenschutz und Gegendarstellungsrecht. Die Beschlagnahmung von Zeitschriften erschwerte man. Die staatliche Aufsicht über die Presse wich einem türkischen Presserat als freiwillige Selbstkontrolleinrichtung. Eine umfassende Bestandsaufnahme der Medienrechtslage in der Türkei haben bereits 2011 der Kölner Medienrechtsforscher Rolf Schwartmann und Christoph Schmidt von der Deutsche Welle-Medienakademie in Bonn vorgelegt.
Rückschritte durch Antiterrorgesetze
Schon vor dem gescheiterten Putsch im Juli 2016, erst recht aber danach, ist türkisches Papier geduldig. Verfassungsgarantien stoßen an die Grenzen gerichtlicher Auslegung. Denn mehr denn je leidet die Arbeit kritischer Journalisten unter den Antiterrorgesetzen. "Schon eine neutrale Berichterstattung über Terroranschläge kann als Terror-Propaganda interpretiert werden", sagt der Mainzer Rechtsprofessor Eberle im DW-Gespräch. "Das hängt wiederum damit zusammen, dass Richter häufig aus der Ministerialbürokratie rekrutiert werden und deshalb eine Neigung zu einer Rechtsprechung haben, die zu Lasten der Journalisten geht."
Mehr als 170 Medien und Verlage wurden inzwischen durch Notstandsdekrete geschlossen. Scharfe Internetgesetze erlauben das Blockieren kritischer Webseiten. In der Rangliste der Länder mit eingeschränkter Pressefreiheit von "Reporter ohne Grenzen" belegt die Türkei 2016 den 151. Platz - unter 180 untersuchten Staaten. Dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändert, glaubt Medienrechtsexperte Eberle nicht: "Ich habe da wenig Hoffnung."