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GesellschaftEuropa

Papst Franziskus: "Wirtschaft neu entwerfen"

4. Dezember 2020

Es wirkt wie eine Anklage und ein prophetischer Weckruf. Deutlich wie selten wendet sich Papst Franziskus an Menschen weltweit und drängt als Konsequenz aus der Corona-Krise auf eine andere Wirtschaft.

Papst Franziskus in Bolivien
Bolivien 2015: Papst Franziskus fordert immer wieder einen konsequenten Einsatz gegen ArmutBild: Reuters/D. Mercado

Es sind starke politische Forderungen. In seinem neuen Buch "Wage zu träumen! Mit Zuversicht aus der Krise" geht Papst Franziskus deutlich mit den herrschenden politischen Systemen ins Gericht und wirft den Industriestaaten vor, ihr Handeln zu sehr an Börseninteressen und zu wenig am einzelnen Menschen auszurichten.

So gipfelt das Buch in seinem Schlusskapitel in der Forderung nach einem "universellen Grundeinkommen". Es ist fast die einzige Stelle des Buches, an der der Papst technisch formuliert und den englischen Fachbegriff mitliefert. Es geht ihm um eine "bedingungslose Pauschalzahlung an alle Bürger, die über das Steuersystem verteilt werden könnte".

Franziskus fordert eine Rückbesinnung auf den Wert von Arbeit, die dem Menschen Würde verschafft und Wohlergehen. "Die Priorisierung des Zugangs zur Arbeit muss zu einem Kernziel der nationalen öffentlichen Politik werden." In der Hinleitung zu diesem Gedanken kritisiert das Kirchenoberhaupt sowohl Gewerkschaften, die die Menschen "an den Rändern" nicht im Blick hätten, als auch Unternehmenschefs und Aktionäre.

Zwar seien es die Arbeitnehmer, die Werte schafften, aber sie würden "als das entbehrlichste Element eines Unternehmens behandelt". Einige Aktionäre, deren Interesse eng an Gewinnmaximierung ausgerichtet sei, hielten dagegen "die Zügel in der Hand".

Unterwegs mit Müllsammlern

In dieser Kritik und dieser Forderung, für die Franziskus sicher von vielen Experten belächelt werden wird, bündeln sich Erfahrungen aus der Zeit des argentinischen Erzbischofs Jorge Mario Bergoglio, der mit Müllsammlern, sogenannten Cartoneros, in deren Kleidung "und ohne das Brustkreuz des Bischofs" nachts durch die Straßen zog: "Ich sah das Gesicht der Wegwerfgesellschaft. Ich sah aber auch die Würde der Cartoneros".

Armenviertel am Rand von Buenos Aires: In Slums wie diesen war Papst Franziskus als Kardinal Bergoglio oft unterwegsBild: picture-alliance/AP Photo/N. Pisarenko

Die Ausführungen erinnern an viele Gelegenheiten, in denen sich der "Papst vom Ende der Welt" an Volksbewegungen wandte - bei Konferenzen während seiner Lateinamerika-Reisen, bei Treffen im Vatikan, in Videoschalten. Und immer wieder seine Botschaft: die "Umkehrung der Prozesse der Entmenschlichung" hänge in der heutigen Welt "von der Beteiligung der Volksbewegungen ab".

Es ist die deutlichste politische Forderung des Buches, bei weitem nicht die einzige. Er beklagt Waffenproduktion und riesige Rüstungsgeschäfte, weltweite Armut und Klimawandel, die so viele Menschen weltweit in die Flucht trieben, sie hungern und chancenlos ließen. "Schau nur auf die Zahlen, was eine Nation für Waffen ausgibt, und dir gefriert das Blut in den Adern", schreibt Franziskus: "Die Ausgaben für Waffen zerstören die Menschheit."

Ganze Völker "auf den Abfall geworfen"

Heute müsse die Welt an die Ränder des Daseins gehen. Und der Papst benennt Leidende dieser Monate, "die Rohingya, die armen Uiguren, die Jesiden", auch "die Christen in Ägypten und Pakistan". Ganze Völker würden "auf den Abfall geworfen". "Wir müssen unsere Wirtschaft neu entwerfen", mahnt er, damit jeder Zugang zu einem Leben in Würde habe. Aber die Menschen öffneten dafür nicht ihre Augen, sondern zeigten "Narzissmus, Entmutigung und Pessimismus" und eine Gleichgültigkeit, "die sie kugelsicher macht".

Rohingya-Flüchtlinge in Indonesien - Papst Franziskus fordert ein Leben in Würde für alleBild: Reuters/Antara Foto/Rahmad

Wörtlich spricht Franziskus von einer "Globalisierung der Gleichgültigkeit und der Hyperinflation des Individuellen". Dazu gehöre auch die schlechte Ausstattung und Bezahlung der Pflege, der Corona-Tod in den Heimen. Und er bekräftigt seinen Ruf zur ökologischen Bekehrung und erinnert an die Lage am Amazonas und die bedrohte Schöpfung.

Der Papst und die Corona-Krise

Die Corona-Krise hat diesen Papst, der doch immer unter Menschen sein, sie berühren, sie herzen will, im Vatikan eingeschlossen. Keine Reisen, kaum mehr Kontakte. Seine Gedanken zur globalen Krise: "Wenn wir aus der Krise weniger egoistisch herauskommen wollen, als wir hineingegangen sind, dann müssen wir uns von dem Leiden anderer anrühren lassen". Was kommt nach Corona? Das treibt ihn um. Die Pandemie ist für Franziskus "die" Krise. Doch zweimal zitiert er den deutschen Dichter Hölderlin (1770-1843): "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch." "Lass uns darüber sprechen, wie." Er hofft. Das Buch ist eine Erzählung, eine Anklage, eine Meditation, es wirkt wie Prophetie, wie ein dramatisch anmutender Aufschrei.

Ostern 2020: Wegen der Corona-Pandemie verkündete der Papst seine Botschaft ganz ohne Gemeinde im PetersdomBild: Reuters/Vativan Media

Damit kommt dem Buch, das diese Woche in einer ganzen Reihe von Sprachen und Ländern in den Handel kommt, hohe Bedeutung zu. Zwar gab es seit Amtsantritt 2013 Buchveröffentlichungen mit meditativen oder geistlichen Texten von Papst Franziskus. Inhaltlich ausgerichtete Publikationen, die als Porträts oder lange Interviews mit Wegbegleitern in Buchform bald nach dem Konklave erschienen, waren indes noch vor 2013 entstanden und galten noch dem argentinischen Kardinal Jorge Mario Bergoglio. 2016 erschien "Der Name Gottes ist Barmherzigkeit", ein Gespräch mit dem Journalisten Andrea Tornielli.

Aber kein Buch wird so persönlich, so grundsätzlich, so politisch wie jetzt "Wage zu träumen!", das aus vielen Gesprächen mit dem britischen Journalisten Austen Ivereigh entstand, der als Ghostwriter agierte. Manche sprechen jetzt - nach gut siebeneinhalb Jahren im Amt - von einer "Regierungserklärung" des Kirchenoberhaupts. Dabei nimmt der bald 84-Jährige in rund sieben Wochen eine symbolische Hürde. Ab dem 26. Januar ist er länger im Amt als sein Vorgänger Benedikt XVI. Letztlich ist das Buch auch den Corona-Einschränkungen geschuldet, die den Papst seit mehr als einem Jahr von den sonst üblichen Auslandsreisen abhielten.

"Franziskus als Privatmann"

Der katholische Theologe Georg Essen sieht das Buch im Interview mit der Deutschen Welle als eigenes Genre: "Der Papst wendet sich geradezu als Privatmann an die Leser. Einerseits erreicht er damit vermutlich mehr Menschen gerade auch außerhalb der Kirche, weil er nicht im Korsett des Amtsträgers steckt." Essen, Professor für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie der Berliner Humboldt-Universität, findet das "spannend". "Der Papst will andererseits auch in die Kirche hinein resonanzfähig sein und glaubt wohl, auf nicht institutionell eingebundene Weise seiner Kirche mehr sagen zu können, als wenn er sich offiziell in seinem Amt und in kirchlichen Verlautbarungen äußert".

Dazu passe, dass Franziskus sich zu heiklen Fragen kirchlicher Lehre wie dem Umgang mit Homosexuellen oder mit konfessionsverbindenden Ehepaaren wiederholt auch im spontan gesprochenen Wort geäußert habe. Nach solchen Worten versuchte der offizielle Apparat immer irgendwie zurückzurudern.

Oktober 2019: Ringen um neue Akzente bei der Amazonassynode im VatikanBild: Getty Images/AFP/A. Solaro

Die gängigen kirchlichen Reformthemen, die in Europa oder den USA thematisiert werden, spricht er an und weist sie werbend und doch deutlich zurück. Er feiert geradezu die Länder, an deren Spitze Frauen stehen, weil sie angesichts der Pandemie "auf das Ganze gesehen besser und schneller reagiert (haben) als andere". Aber er wendet sich gegen eine Einbindung von Frauen in das kirchliche Amt, auch gegen das Priesteramt für ältere verheiratete Männer, wie es 2019 bei der Amazonas-Synode im Vatikan diskutiert wurde. Schon die Debatte ist für ihn Ausdruck von "Klerikalismus".

Franziskus geht es um die Rettung der Welt, einer menschenwürdigen Welt aller. Entgegen mancher Signale, die er in den ersten Jahren seines Pontifikats aussendete, scheinen Veränderungen der kirchlichen Doktrin in diesem Bereich keine Bedeutung mehr zu spielen.

"Kirche in der Sackgasse"

An "institutionellen Aspekten und Fragen von Strukturveränderungen auf kirchlicher Seite", so Theologe Essen, zeige Franziskus offenbar kein Interesse. Stattdessen verstehe er sich als Seelsorger, als Pastor und habe keinen geschärften Blick auf die Institution. "Aber er hat gar nicht den Anspruch, systemverändernd zu wirken", sagt Essen.

Vielleicht will Franziskus, eigentlich Amtsträger mit aller Machtfülle, dem System auch nur noch von außen aufzeigen, wie es auf eigene Weise "petrifiziert" sei: "Kirche in einer Sackgasse ohne Wendemöglichkeit".

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