Kapitalismuskritiker Papst Leo, die Armen, der Reichtum
9. Oktober 2025
"Die Armen gibt es nicht zufällig oder aufgrund eines blinden und bitteren Schicksals." In seinem ersten großen Lehrschreiben ruft Papst Leo XIV. (70), seit gut fünf Monaten im Amt, zu einem entschiedeneren Kampf gegen die Armut auf. Auch gegen politische Strukturen, die sie befördern. Armut, so betont er, sei für die meisten Betroffenen keine freie Entscheidung. "Und doch gibt es immer noch Menschen, die dies behaupten und damit ihre Blindheit und Grausamkeit offenbaren."
Leo beklagt die Armut so vieler Menschen, deren Zahl noch wachse - und er beklagt den Reichtum weniger Menschen. In einer Welt, in der es immer mehr arme Menschen gebe, sehe man "paradoxerweise auch die Zunahme einiger reicher Eliten, die in einer Blase sehr komfortabler und luxuriöser Bedingungen leben, beinahe in einer anderen Welt im Vergleich zu den einfachen Menschen".
Kritik an Reichtum "ohne Gerechtigkeit"
Der aus den USA stammende Papst, der viele Jahre als Seelsorger und Bischof in einer der ärmsten Regionen Perus tätig war, wird jedoch nicht konkreter. Dabei hatte er in einem im September veröffentlichten Interviewbuch ausdrücklich überhöhte Managergehälter kritisiert und dabei auch Tesla-Chef Elon Musk namentlich erwähnt. Dabei verwies Leo auf Berichte, wonach Musk vermutlich "der erste Dollar-Billionär der Welt“ werden könnte. Wenn dies das Einzige sei, was noch einen Wert habe, gebe es "ein großes Problem". Der Reichtum sei gewachsen, "aber ohne Gerechtigkeit", steht nun in dem Lehrschreiben.
Solche Dokumente richten sich in der Regel an Gläubige, also an ein innerkirchliches Publikum. Darin legt der Papst seine Lehre zu wichtigen Fragen des Glaubens, der Moral oder der Gesellschaft dar. Ihre offizielle kirchliche Bezeichnung lautet "Apostolische Exhortation“. Im Rang steht sie unmittelbar hinter der Enzyklika, die sich im Unterschied dazu ausdrücklich an alle Menschen wendet - unabhängig ihrer religiösen Zugehörigkeit. Das rund 50 Seiten umfassende Schreiben trägt den Titel "Dilexi Te"; lateinisch für "Ich habe dich geliebt". Der Untertitel lautet: "Über die Liebe zu den Armen".
Darin wird schnell deutlich, worauf Leo seinen Fokus legt: Er mahnt Kirche und Politik gleichermaßen, benennt Strukturen der Ungerechtigkeit im Großen und Beispiele tätiger Sorge oder Teilhabe im Kleinen. Auch in den reichen Ländern seien "die Zahlen der Armen nicht weniger besorgniserregend", erläutert er. Konkret heißt es: "In Europa gibt es immer mehr Familien, die mit ihrem Einkommen nicht bis zum Monatsende auskommen." Eine Papstkritik, die gerade in Zeiten besondere Aufmerksamkeit verdient, in denen manche Politiker der C-Parteien in Deutschland - also der christlich orientierten Schwesterparteien CDU und CSU - deutliche kirchliche Einwürfe eher ungern hören.
Eine der größten und zugleich umstrittensten Aussagen seines Vorgängers, Papst Franziskus, greift Leo ausdrücklich auf. Er betont, dass es notwendig sei, weiterhin die "Diktatur einer Wirtschaft, die tötet, anzuklagen". Dabei macht er das Ungleichgewicht der Vermögen deutlich: "Während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen", seien die der Mehrheit immer weiter entfernt vom Wohlstand dieser "glücklichen Minderheit. Dieses Ungleichgewicht geht auf Ideologien zurück, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen."
Papst erinnert an das Schicksal armer Frauen
So beklagt er "wachsende Ungleichheit auch in allgemein wohlhabenden Lebensumfeldern" und erinnert an das Schicksal von Frauen, die "doppelt arm" seien, weil sie Misshandlung und Gewalt erlitten und kaum ihre Rechte verteidigen können und doch "täglichen Heroismus" lebten.
"Das Herz der Kirche ist ihrem Wesen gemäß solidarisch mit denen, die arm, ausgegrenzt und an den Rand gedrängt sind, mit denen, die als 'Abfall' der Gesellschaft betrachtet werden. Die Armen gehören zur Mitte der Kirche", mahnt Leo.
Im Grunde ist dieses erste Schreiben ein Doppelwerk. Leo erwähnt zu Beginn, dass er "dieses Projekt gewissermaßen als Erbe" seines Vorgängers übernommen, es sich zu zeigen gemacht und "einige Überlegungen" hinzugefügt habe. Ähnlich verfuhr Franziskus (2013-2025) bei seiner ersten Enzyklika im Sommer 2013, die auf Arbeiten von Papst Benedikt (2005-2013) aufbaute. Dabei sei, wie der Augsburger Kirchenhistoriker Jörg Ernesti - ein Experte für das Papsttum - der Deutschen Welle sagt, kein Papst "gezwungen", ein Projekt seines Vorgängers fortzuführen.
Die meistgenannten Quellen in den Fußnoten eines solchen Schreibens sind päpstliche Dokumente. Insofern dienen sie stets auch einem Mechanismus der bruchlosen Selbstbekräftigung der Institution. Franziskus schaffte es in den meisten seiner Schreiben zumindest gelegentlich, auch Autoren wie Hölderlin oder andere moderne Schriftstellerinnen und Schriftsteller einzubeziehen. Bei diesem ersten Schreiben von Leo ist dies jedoch nicht der Fall.
Üblich ist nach der Veröffentlichung eines solchen Dokuments auch die Woge des Zuspruchs von Bischöfen und kirchlichen Verbänden. Auf diese Weise dient die Selbstbekräftigung zugleich der Orientierung.
"Grundlage für politisches Engagement"
Kirchenhistoriker Ernesti erläutert im DW-Gespräch, dass Papst Leo im Anschluss an Franziskus deutlich mache, "dass man Christ nicht sein kann, ohne sich verantwortlich für die Welt und konkret auch für die Bedrängten und Armen zu fühlen". Das stehe dafür, dass "Christsein nicht ohne Weltverantwortung geht". Damit lege das Dokument die Grundlagen "für ein politisches Engagement der katholischen Christen".
Gleichzeitig sei das Schreiben ein "sehr spiritueller, streckenweise auch meditativer Text". Leo argumentiere lange kirchenhistorisch und werde erst im letzten Teil eher politisch. Dort, so Ernesti, erinnere der Text an die Tradition der katholischen Soziallehre und spreche auch von der "Option für die Armen".
Ernesti betont, als Historiker irritiere ihn ein wenig, "dass da doch eine sehr positive, fast idealisierende Sicht der Geschichte gezeichnet" werde. Sicher habe es auch Formen großen Reichtums in der Kirche gegeben. Und nicht immer seien die Armen so im Fokus gewesen wie unter Papst Franziskus, sagte der Theologe unter Verweis auf sehr reiche Klöster im Mittelalter oder die Päpste der Renaissance. "Da ging es sicherlich nicht primär um die Sorge für die Armen."
Ernesti sieht das Schreiben aber noch nicht als "programmatische Schrift" oder "Regierungsprogramm", wie es beispielsweise Paul VI. 1964, Johannes Paul II. 1979 oder Papst Franziskus 2013 mit frühen Enzykliken vorgelegt hätten. "Es ist sicherlich noch nicht die Antrittsenzyklika, die, wie es heißt, im Frühjahr kommen soll."
Neue Phase des Pontifikats
Aber die Veröffentlichung des Papst-Schreibens fällt passend in eine erkennbar neue Phase dieses Pontifikats. Die Monate der Orientierung scheinen abgeschlossen. Leo trifft erste wichtige Personalentscheidungen und meldet sich öfter politisch zu Wort. Während der vergangenen Wochen äußerte er sich wiederholt kritisch zur Entwicklung in seinem Heimatland USA. Auf seine erste pointierte Stellungnahme zum Umgang mit Migranten reagierte sogar das Weiße Haus und wies die Kritik zurück. Aber Leo legt nach und drängt die US-Kirche, offensiver für die Wahrung der Menschenwürde von Migranten einzutreten. Diese seien "lebendige Zeugen der Hoffnung".
Zu dieser neuen Phase dieses Pontifikats passt die Ankündigung der ersten Auslandsreise von Papst Leo vor wenigen Tagen. Vom 27. November bis 2. Dezember will er die Türkei und den Libanon besuchen.