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Rampenlicht von begrenzter Dauer

Ronny Blaschke
27. August 2021

Die Paralympics beschleunigen in den Gastgeberstädten eine Debatte über Barrierefreiheit und Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Doch nachhaltige Errungenschaften sind eher selten.

Japan Tokio | Paralympics Tokio 2020
Japans Hauptstadt Tokio ist nach 1964 zum zweiten Mal Gastgeberstadt der ParalympicsBild: Eugene Hoshiko/AP/dpa/picture alliance

"Der Sport ist das Rampenlicht für Menschen mit Behinderung." Pathetische Worte wie diese hört man öfter von Sportfunktionären während der Paralympics. "Von morgen an beginnen die paralympischen Athleten wieder, die Welt zu verändern", formulierte auch Andrew Parsons am Dienstag in seiner Rede bei der Eröffnungsfeier der 16. Ausgabe der Sommer-Paralympics in Tokio. Gegenüber der DW sagte der Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC): "Lange waren die Paralympics ein Anhängsel. Doch inzwischen sind die Spiele ein Treiber für gesellschaftliche Veränderungen." Aber lässt sich der gesellschaftliche Wandel tatsächlich messen?

Zumindest ist es seit 1988 so, dass die Weltspiele der Behindertensportler immer an dem Ort stattfinden, an dem zuvor auch die Olympischen Spiele gefeiert wurden. Nach den Olympischen Spielen 1980 hatte Moskau die Austragung der Paralympics noch abgelehnt. Die Kommunistische Partei wollte nicht, dass ihre Sowjetunion mit behinderten Menschen in Verbindung gebracht wird. Als Ersatzort sprang das niederländische Arnheim ein. Vier Jahre später zeigte auch Los Angeles kein Interesse an den Weltspielen des Behindertensports. Stattdessen fanden die Wettbewerbe in New York und im britischen Stoke Mandeville statt.

Auch 1972 fanden die Paralympics nicht in der deutschen Olympiastadt München statt, sondern in Heidelberg. In München wollte man das Olympische Dorf nicht behindertengerecht umbauen und die 3500 Wohneinheiten früher für zahlende Mieter freigeben. 

Hohe Prämien, aber keine Nachhaltigkeit

Was allen paralympischen Austragungsorten der jüngeren Vergangenheit gemein ist, ist die bereits vor den Spielen einsetzende Debatte über physische Barrieren. Bürgermeister kündigten den Bau von Rampen und Fahrstühlen an, Sportverbände setzten paralympische Fördermodelle auf die Agenda. Aber: Sportindustrie und Medien blicken selten zurück, daher fehlen differenzierte Studien zur Nachhaltigkeit.

Eine Ausnahme bildet London: In einer Umfrage nach den Paralympics 2012 gaben drei Viertel der Briten an, Behinderungen nun positiver zu sehen. Achtzig Prozent der Befragten mit einem Handicap wollten künftig mehr Sport treiben. Und Unternehmen signalisierten ein größeres Interesse an Beschäftigten mit einer Behinderung.

Behinderungen immer noch ein Stigma

Ergebnisse wie diese bestärken das IPC darin, noch früher auf Gesetzgeber und Zivilgesellschaft der Gastgeber zuzugehen. Doch die Rahmenbedingungen sind unterschiedlich.

Die Paralympics in Sotschi produzierten schöne Bilder, waren für Behinderte in Russland aber nicht nachhaltigBild: Julian Stratenschulte/dpa/picture alliance

Beispiel Russland: 2012, zwei Jahre vor den Winterspielen in Sotschi, ratifizierte der Kreml die UN-Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Das Parlament verabschiedete erstmals ein Gesetz gegen die Diskriminierung behinderter Menschen. Oligarchen lobten Prämien für Medaillengewinner aus.

Doch Human Rights Watch legt in einem Bericht dar, dass Behinderungen in Russland noch immer als Stigma angesehen werden. Im gemeinsamen Organisationskomitee von Olympia und Paralympics für Sotschi arbeiteten kaum Menschen mit Behinderung. 

Trügerische Anzeichen im Sport

Grundsätzlich gilt: Der Einfluss des paralympischen Sports ist an wirtschaftliche Entwicklungen geknüpft. 25 Länder, die über Nationale Paralympische Komitees verfügen, sind in Tokio nicht vertreten - meist kleinere Organisationen aus Asien und Afrika, die die hohen Kosten nicht aufbringen konnten oder durch politische Krisen zurückgeworfen wurden. Von den zehn erfolgreichsten Nationen im historischen Medaillenspiegel liegen acht in Europa und Nordamerika, dazu China und Australien. Mit zunehmendem Wohlstand wächst die gesellschaftliche und damit auch die sportliche Teilhabe.

Aufgrund der finanziellen Möglichkeiten und Strukturen sind Para-Athleten aus Industrienationen im VorteilBild: Bob Martin/OIS/AP/picture alliance

Doch manchmal liegen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander: In Brasilien benennt die Verfassung seit 1988 zwei Amtssprachen: Portugiesisch und die Gebärdensprache Libras. Mit Blick auf die Paralympics 2016 in Rio wurde eines der weltweit größten Trainingszentren für Behindertensport gebaut. Das brasilianische Parlament verabschiedete ein detailliertes Gesetz für die Belange von behinderten Menschen.

Aber solche Konzepte können trügerisch sein: 2018, zwei Jahre nach den Spielen von Rio, beschrieb Human Rights Watch in einem Report, wie Tausende Brasilianer mit Behinderung in Einrichtungen ein menschenunwürdiges Leben führen müssen. 2019 ließ die rechtskonservative Regierung von Präsident Jair Bolsonaro Quotenplätze und Förderungen für behinderte Menschen auf dem Arbeitsmarkt rückgängig machen.

Wir, die 15 Prozent

IPC-Präsident Andrew Parsons stammt aus Brasilien und leitete dort zwischen 2009 und 2017 das Nationale Paralympische Komitee. Er möchte nicht den Anschein erwecken, dass die Paralympics Gesellschaften in wenigen Jahren grundsätzlich verändern können.

Der Brasilianer Andrew Parsons ist seit 2017 Präsident des Internationalen Paralympischen KomiteesBild: Karl-Josef Hildenbrand/dpa/picture alliance

"Aber sie können ein Anstoß sein", sagt er. "Viele Menschen, die sich nie mit dem Thema beschäftigt haben, sehen im Fernsehen, wozu Menschen mit Behinderung in der Lage sind."

Das IPC hat gerade mit den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen eine langfristige Kampagne aufgelegt: "WeThe15". Der Name verweist auf die 15 Prozent der Weltbevölkerung, die mit einer Behinderung leben, rund 1,2 Milliarden Menschen. Einige Ziele: Aufklärungen, Fortbildungen und die Vermittlung von günstiger Sportausrüstung, insbesondere für einkommensschwache Staaten des globalen Südens.

Großer Nachholbedarf im Gastgeberland Japan

Andrew Parsons hofft, dass die Fernsehbilder aus Tokio der Kampagne Aufschwung verleihen. Laut IPC können rund 4,25 Milliarden Menschen weltweit die Bilder verfolgen, erstmals in vierzig Ländern in Subsahara-Afrika. Tokio macht auch deutlich, wie groß das Wohlstandsgefälle in der Paralympischen Welt ist. Als demokratisch regierter Industriestaat verfügt Japan über eine passable Infrastruktur für Menschen mit Behinderung. Autobauer und Elektrokonzerne stellen die Paralympics ins Zentrum ihrer Debatten über Mobilität und Gesundheitsvorsorge in einer alternden Gesellschaft.

Auch in der Paralympics-Stadt Tokio haben Rollstuhlfahrer und Sehbehinderte mit vielen Hindernissen zu kämpfenBild: picture alliance/dpa/Lehtikuva

Doch ob der gesellschaftliche Wandel damit Schritt halten kann, bleibt fraglich. "Ich glaube, wenn es um Barrierefreiheit insgesamt geht, sind wir immer noch schlechter als andere reiche Länder", sagte der japanische Parlamentsabgeordnete Takanori Yokosawa, der als Skifahrer an den Winter-Paralympics in Vancouver 2010 teilgenommen hatte, der "Badischen Zeitung". "Viele Menschen sind unsicher, wie sie mit Leuten mit einer Behinderung umgehen sollen. Und dann meiden sie Peinlichkeiten einfach durch Verschlossenheit." Yokosawa betont außerdem, dass Menschen mit Behinderung im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt seien.

Japan hat die 2006 verabschiedete UN-Behindertenrechtskonvention erst 2014 ratifiziert, ein ausgefeiltes Antidiskriminierungsgesetz fehlt bis heute. Doch zumindest läuft in japanischen Medien, Wissenschaften und Unternehmen eine Debatte.

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