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Politik

Das Trauma der Überlebenden

Lisa Louis Paris
7. September 2021

In Paris beginnt der Prozess gegen Angeklagte der Terroranschläge vom November 2015. 130 Menschen wurden damals getötet. Überlebende erhoffen sich Antworten auf viele offene Fragen.

Frankreich Paris | Gedenken an Terroranschläge 2015 | Bataclan
November 2020: Fünf Jahre nach den Terroranschlägen in Paris versammelten sich Politiker zu einem Gedenken Bild: Christophe Archambault/REUTERS

Seit dem 13. November 2015 fühlt sich Sébastien Dauzet verletzlich. Damals arbeitete der nun 41-Jährige als Barkeeper im Restaurant La Bonne Bière im Nordosten von Paris, als sein Arbeitsplatz sich auf einmal in ein Schlachtfeld verwandelte. "Es war halb zehn und ich dachte auf einmal, ich hörte Böller. Ich hab erst gar nicht verstanden, was vor sich ging", erklärt er der DW, während er an einem Montagmorgen vor der Bar steht, hinter der er damals Getränke ausgeschenkt hat.

"Auf einmal rannten alle. Eine Person, die am Bein getroffen war, versuchte, die Treppe hinten hoch zukommen. Dann sah ich, wie die Attentäter mit Kalaschnikows auf die Leute schossen. Es war wie im Film. Ich habe mich auf den Boden geworfen und bin dann erstmal dort geblieben." Er überlebte. Er konnte damals noch nicht wissen, dass dies eine von mehreren fast gleichzeitig durchgeführten Attacken der Attentäter in Paris war.

20 Personen stehen vor Gericht

Nun stehen von diesem Mittwoch an 20 Menschen vor Gericht, die die Terroristen mehr oder weniger direkt unterstützt haben sollen. Es ist ein Prozess, der für die traumatisierten Überlebenden wichtig ist.

Neun Terroristen töteten an jenem Abend insgesamt 130 Menschen in Anschlägen auf das Fußballstadion Stade de France, auf mehrere Bars und Restaurants und auf die Konzerthalle Bataclan. Es war der blutigste Anschlag in Frankreich seit dem zweiten Weltkrieg.

Sébastien Dauzet arbeitete am 13. November 2015 als Barkeeper im "La Bonne Bière"Bild: Lisa Louis/DW

Zu diesen Bars gehörte auch La Belle Équipe, etwa zwei Kilometer südöstlich von La Bonne Bière. Auch wenn er zum Zeitpunkt des Anschlags nicht dort gewesen ist, ist es für Dauzet immer noch schwierig, dorthin zu gehen. "Ich hab früher in dieser Gegend gearbeitet, und Freunde von mir haben an jenem Abend hier einen Geburtstag gefeiert", erzählt er, während er vom Gehsteig aus auf das Restaurant blickt.

"Unter ihnen war auch Michelli, die Freundin meines italienischen Kumpels Fil. Er hatte ihr zwei Monate zuvor einen Heiratsantrag gemacht. Wir dachten alle, sie hätte überlebt. Am nächsten Tag haben wir dann erfahren, dass sie umgekommen war." Gegenüber von La Belle Équipe hängt eine Gedenktafel, auf der die Namen aller 20 Opfer des Anschlags stehen. Dauzet guckt erst einige Minuten darauf. Dann sagt er, mit Tränen in den Augen: "Sie war ein richtiger Engel. Hübsch, intelligent und so nett. Sie fehlt uns allen."

Ein Mammutprozess, der mindestens neun Monate dauern soll

Von den 20 Angeklagten soll sich nur einer, Salah Abdeslam, direkt an den Attentaten beteiligt haben - indem er die Terroristen zu den Anschlagsorten gefahren hat und ihnen geholfen haben soll, den von ihnen benutzten Sprengstoff herzustellen. Die anderen 19 Beschuldigten werden verdächtigt, die Anschläge geplant beziehungsweise die Attentäter unter anderem logistisch unterstützt zu haben. Sechs von ihnen wird man in Abwesenheit den Prozess machen. Ermittler gehen davon aus, dass sie inzwischen in Syrien oder im Irak umgekommen sind. An dem Mammutprozess werden mindestens 1800 Zivilkläger und 300 Anwälte teilnehmen. Er soll neun Monate oder länger dauern.

Einer der Zivilkläger ist Thierry, der seinen Nachnamen lieber nicht nennen möchte. Er harrte damals stundenlang mit ein paar anderen Konzertgängern in einer Umkleidekabine im Bataclan aus, während drei Attentäter dort während eines Konzerts der Rockgruppe Eagles of Death Metal 90 Menschen töteten. "Nachdem die Polizei gekommen war, brachte sie uns durch den Haupteingang raus. Als ich auf den Boden guckte, sah ich mehrere Tote dort in der Raucherecke liegen," sagt der 56-Jährige und zeigt auf eine Ecke vor dem Konzerthaus.

Delphine Morali betreut noch immer einige der Überlebenden der Anschläge von Paris im November 2015Bild: Privat

Thierry hofft auf harte Strafen

Der Reiseverkäufer glaubt seitdem, dass er unter einem guten Stern geboren wurde. Und dennoch: Hinter seinem fröhlichen Lächeln verstecken sich tiefe Narben. "Ich denke nicht, dass diese Wunde jemals heilen wird", sagt er. "Sobald man auf irgendein Problem im täglichen Leben trifft, kommt das Trauma zurück. Und ich schlafe sehr schlecht, wache dauernd auf. Jede Nacht träume ich, dass ich mit einer Schusswaffe gegen Terroristen kämpfe, um andere Menschen zu beschützen."

Thierry denkt nicht, dass der Prozess daran irgendetwas ändern wird. "Dennoch ist es wichtig für mich, dort als Zeuge auszusagen - auch, weil die Verhandlung für die Archive und die nachfolgenden Generationen gefilmt wird. Aber ich erwarte nichts Spektakuläres - die Angeklagten werden nicht weinen oder sich entschuldigen. Sie werden schlicht dafür bezahlen, was sie getan haben. Hoffentlich werden die Urteile hart ausfallen", sagt er.

Der Prozess - eine wichtige Etappe für Überlebende

Doch nicht alle Überlebenden schaffen es, keine großen Erwartungen an diese Gerichtsverhandlung zu haben, sagt Delphine Morali der DW. Die Psychiaterin arbeitet am Zentrum für Psychotrauma des Instituts für Opferforschung im nordöstlichen Paris. Dort wurde damals eine Krisenabteilung für Überlebende der Terrorangriffe eingerichtet. Heute werden dort noch rund 20 Betroffene betreut. "Einige unserer Patienten schaffen es bis heute nicht, ein normales Leben zu führen. Sie leiden noch immer an Symptomen wie extremer Wachsamkeit und Schlaflosigkeit", sagt Morali. Und manche von ihnen erhofften sich einfach zu viel von dem Prozess: "Die Verhandlung ist eine wichtige Etappe - auch gerade, weil dadurch der angerichtete Schaden anerkannt und die Beschuldigten bestraft werden können", erklärt sie.

Thierry war an jenem Abend im Bataclan und harrte stundenlang in einer Umkleidekabine ausBild: Lisa Louis/DW

"Aber das alleine reicht nicht, um über das Trauma hinwegzukommen. Schließlich fühlen sich viele generell nicht mehr sicher, weil es seitdem noch zahlreiche andere Attentate gab. Außerdem sind die meisten Terroristen von damals tot und können nicht zur Verantwortung gezogen werden. Das ist frustrierend." Seit 2015 sind mehr als 250 Menschen bei Anschlägen in Frankreich getötet worden.

Angst davor, von dem Prozess enttäuscht zu werden

Matthieu Mauduit hat tatsächlich Angst davor, dass das Urteil am Ende des Prozesses ihn enttäuschen könnte. Sein 41-jähriger Bruder Cédric wurde damals im Bataclan getötet. Noch heute hat Mauduit das Gefühl, seinem Leben würde ein Puzzleteil fehlen. "Ich nehme noch immer Antidepressiva. Und es gibt nicht einen Tag, an dem ich nicht an ihn denke", sagt er.

Er findet, er sei es seinem Bruder schuldig, beim Prozess als Zivilkläger dabei zu sein. "Ich hoffe, wir bekommen wenigstens ein paar Antworten auf all die offenen Fragen. Auch wenn ich versuche, mir keine falschen Hoffnungen zu machen. Die Angeklagten werden nicht um Entschuldigung bitten. Sie sind in ihrem Fanatismus gefangen und erkennen ja noch nicht einmal unser Justizsystem an." 

Barkeeper Dauzet will den Prozess lieber aus der Ferne beobachten. "Etwas sagt mir, ich sollte nicht teilnehmen und dass es mir nicht gut tun würde. Es sind schon genügend andere mit dabei, um für Gerechtigkeit zu sorgen", meint er. An jenem Abend hätte Dauzet eigentlich im Bataclan sein sollen: "Ich wollte zu dem Konzert gehen. Aber weder ich noch meine damalige Freundin, die auch in einer Kneipe gearbeitet hat, konnten uns den Freitag freinehmen."

Und während er auf die Gedenktafel für die Opfer gegenüber des Konzerthalle schaut, holt ihn auf einmal die Realität ein. "Gerade ist mir klar geworden, dass mein Name auf dieser Gedenktafel stehen könnte. Das tut weh", sagt er leise. Dauzet will bald aus Paris wegziehen. Er will der Stadt und den Erinnerungen an das Geschehene den Rücken kehren.

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