1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Bulgarien: Alles ändern oder auswandern?

Alexandar Detev
31. März 2021

Junge und gut gebildete Bulgaren vor der Parlamentswahl am Sonntag - sie wollen das Land ausmisten und von Korruption befreien. Gelingt das nicht, sehen sie nur eine Alternative: auswandern.

Bulgarien Wahl
Am Sonntag (4.4.2021) wird in Bulgarien ein neues Parlament gewähltBild: BGNES

Es ist still auf dem Witoscha-Boulevard, der Sofioter Prachtstraße. Bis zur Parlamentswahl am Sonntag (4.4.) sind es nur noch einige Tage, aber vom Wahlkampf ist wenig zu spüren. Nur einige Mitglieder und Anhänger der Oppositionspartei "Erhebe dich! Mafia raus!" haben sich versammelt und übertragen ihr Happening live auf Facebook. "Erhebe dich! Mafia raus!" entstand aus den monatelangen regierungskritischen Demonstrationen im vergangenen Sommer und Frühherbst. Die Partei will jetzt zum ersten Mal die Unterstützung der Wähler gewinnen und eine vierte Amtszeit des Premierministers Bojko Borissow verhindern.

Mitten im Wahlkampf ist Bulgarien in einen neuen Lockdown gegangen. Kurz zuvor, am 1. März, hatte die Regierung zunächst noch die Gastronomie geöffnet und weitere Lockerungen in Aussicht gestellt, trotz Kritik von Gesundheitsexperten und einer zunehmenden Zahl von Corona-Neuinfektionen. Das Ergebnis: Derzeit vermeldet Bulgarien einen Höchststand an Covid-19-Kranken. "Wir sind fast an unserer Grenze", gab Assen Baltow, Direktor des größten Notfallkrankenhauses Bulgariens, kürzlich in einem Radiointerview zu.

Lieber das Altbekannte

Doch trotz eines wenig erfolgreichen Pandemie-Managements und der massiven Anti-Korruptions-Demonstrationen im Vorjahr führt die Partei des Premiers Bojko Borissow, "Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens" (GERB), in Umfragen mit sicher erscheinendem Vorsprung. Warum? Dazu hat ein Mann mittleren Alters, der im Zentrum von Sofia unterwegs ist, eine Antwort parat: "Die Opposition hat sich noch nicht etabliert. Ich bevorzuge das, was ich bereits kenne, auch wenn es nicht das Beste ist."

Dimitar Dimitrov, Kandidat der Partei "Demokratisches Bulgarien": "Keine prinzipienlose Kompromisse eingehen"Bild: Alexandar Detev/DW

Viele junge Bulgaren sind offenbar anderer Meinung. Zum Beispiel Dimitar Dimitrow: 29 Jahre alt, eloquent, modern. Seine Magisterarbeit über Geschichte der internationalen Beziehungen an der renommierten London School of Economics wurde mit einer historischen Höchstnote ausgezeichnet, er hätte international beste Karrierechancen gehabt. Dennoch kehrte er vor sechs Jahren nach Bulgarien zurück. Nun kandidiert er bei der Wahl auf der Liste "Demokratisches Bulgarien" (DB), ein rechtsliberales Wahlbündnis, angeführt von Hristo Iwanow, einem ehemaligen Justizminister unter Bojko Borissow, der Ende 2015 nach einer gescheiteren Justizreform zurücktrat.

"Nepotismus und Korruption sind überall präsent"

Dimitrow ist überzeugt, dass Bojko Borissow und seine Regierung "abgenutzt, delegitimiert und schädlich für das politische und öffentliche Leben in Bulgarien" sind. Der junge Wissenschaftler vertritt eine Generation von Bulgaren, die global denken, aber lokal handeln wollen. Dimitrows Wunsch ist, dass diese jungen und meist hervorragend ausgebildeten Frauen und Männer sich in die Politik einbringen und mit den alten Seilschaften brechen.

Genau das wollen auch Iva und Atanas. Im vergangenen Jahr nahmen sie in Sofia an den regierungskritischen Demonstrationen teil und skandierten: "Mafia! Korruption!" Die beiden 27-Jährigen sind ein Paar und arbeiten als Fachkräfte im Digital Management, Iva hat in Österreich studiert, ist aber vor drei Jahren nach Bulgarien zurückgekehrt. "In keinem einzigen Bereich der Politik kann ich Leute erkennen, die wirklich verstehen, was sie tun", sagt ihr Freund Atanas, "Bürokratie und Inkompetenz sind allgegenwärtig." Schlimmer noch, ergänzt Iva: "Nepotismus und Korruption sind überall präsent und für die Menschen sehr desillusionierend." Gleichzeitig aber sei gerade das eine Motivation, wählen zu gehen und eine Alternative zu unterstützen, fügt sie hinzu.

Iva (li.) und Atanas wollen auswandern, wenn sich auch nach diesen Wahlen nichts ändertBild: Alexandar Detev/DW

Schwierige Regierungsbildung

Bulgarien belegt zusammen mit Ungarn und Rumänien den letzten Platz in der EU im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International. In Sachen Pressefreiheit ist es ebenfalls Schlusslicht unter den EU-Ländern - im Ranking von Reporter ohne Grenzen (ROG) belegte es 2020 den unrühmlichen Platz 111 von 180. "Einige wenige Unternehmer besitzen in Bulgarien einen Großteil der Medien und bestimmen die Redaktionslinie in enger Abstimmung mit führenden Politikern",  heißt es bei ROG.

Korruption, Nepotismus, politisch gelenkte Medien - all das wollen die jungen Bulgaren, die vergangenes Jahr auf die Straßen gingen, endlich beseitigen. Mit ihren Wahlstimmen oder als Parlamentarier. Laut Umfragen könnte Demokratisches Bulgarien, die urbane Partei von Dimitrow, zwischen sechs und acht Prozent der Stimmen bekommen. Doch es ist äußerst fraglich, ob sie mit anderen Oppositionsparteien eine Koalition bilden wird. "Eigentlich sehe ich keinen möglichen Regierungspartner", sagt Atanas. "Es wäre für die Wähler sehr demotivierend, wenn DB eine Koalition mit einer Status-Quo-Partei eingehen würde."

Keine prinzipienlosen Kompromisse

Mit "Status-Quo-Parteien" meint er die drei größten Parteien Bulgariens - Bojko Borissows GERB, die "Bulgarische Sozialistische Partei" (BSP), die Nachfolgerin der "Bulgarischen Kommunistischen Partei" ist, und die "Bewegung für Rechte und Freiheiten" (DPS), also die Partei der türkischen Minderheit Bulgariens. Der berüchtigtste Politiker dieser Partei, der Oligarch Deljan Peewski, ist laut Reporter ohne Grenzen "der einflussreichste Medienmagnat in Bulgarien", der "mehrmals in Skandale um Bereicherung und Amtsmissbrauch verwickelt war". Peewski kandidiert für diese Wahl nicht. Zu dieser Entscheidung gab es keine offizielle Erklärung.

Sofia: Proteste gegen Korruption und Nepotismus (22.09.2020)Bild: Alexandar Detev/DW

Und was kommt nach der Wahl? Dimitar Dimitrow atmet tief durch. "Es wird nicht einfach. Wir sollten aber auf keinen Fall prinzipienlose Kompromisse eingehen", sagt er. Ein nobles, aber sehr schwieriges Vorhaben, denn das künftige Parlament wird wohl mit fünf bis acht Parteien sehr fragmentiert sein.

Die jungen Frauen und Männer in Bulgarien, die vergangenes Jahr demonstrierten, hoffen trotzdem, dass der Staat eine neue Richtung einschlagen wird. "Ich hoffe immer noch, dass sich die Dinge ändern", sagt Iva. Und wenn nicht? "Proteste", verkündet Atanas. "Und wenn sie keine Veränderung herbeiführen, dann eben Auswanderung."