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Politik

Parteien mit immer weniger Volk

31. Oktober 2018

Den alten Volksparteien laufen die Wähler davon, und zwar überall in Europa. Es profitieren vor allem Rechtspopulisten. Wie gehen die Volksparteien mit ihrem Niedergang um - und welche Strategie verspricht Erfolg?

Symbolbild: Spielfigur
Bild: picture-alliance/R. Fishman

"Sehen Sie, man kann Europäer sein und nicht Populist und noch Wahlen in Europa gewinnen." Freudestrahlend kam der luxemburgische Ministerpräsident Xavier Bettel beim jüngsten EU-Gipfeltreffen auf die wartenden Journalisten zu. Bettel von der Demokratischen Partei wurde nach der Parlamentswahl erneut mit der Regierungsbildung beauftragt. Er hat seinen Wahlsieg gleich in einem Brüsseler Lokal gefeiert und dazu spontan die Deutsche Angela Merkel, den Franzosen Emmanuel Macron und den Belgier Charles Michel eingeladen. "Es war super. Wir hatten Fritten und Bier", erzählte Bettel am nächsten Morgen.

Mitte-Politiker unter sich: (v.l.) Michel, Bettel, Macron, Merkel in einem Brüsseler LokalBild: Reuters/TV N1 ZAGREB/H. Kresic

Gemäßigte Regierungschefs aus gemäßigten Parteien waren da unter sich und entspannten sich. Doch ihre Art gerät europaweit immer mehr in die Defensive: Die italienischen Christdemokraten, die jahrzehntelang den Ministerpräsidenten stellten, existieren praktisch nicht mehr. Die französischen Sozialisten, die niederländischen Sozialdemokraten, ebenfalls lange tonangebend in ihren Ländern, wurden bei den jüngsten Wahlen beinahe ausgelöscht. Selbst die lange unerschütterliche deutsche Kanzlerin hatte schon im hessischen Wahlkampf gewarnt, die CDU könne "den Rang als Volkspartei verlieren".

Wählerischer Wähler

Befragt nach den Gründen, sieht der Politikwissenschaftler Florian Hartleb die Parteien als "Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen". Auch andere Institutionen verlören an Ansehen, sagt er. Nicht zuletzt die Sozialdemokraten hätten ihre Kernklientel vernachlässigt und vor allem in Deutschland verunsichert "durch den massiven Zuzug von Flüchtlingen".

Sein Kollege Wolfgang Merkel erklärt es so: "Unsere Gesellschaften haben sich individualisiert. Wir als Bürger wollen nicht ein Gesamtpaket, das sehr diffus alle Punkte eines politischen Programms umfasst und gleichzeitig versucht, alle möglichen Schichten und Milieus zusammen zu bedienen." Die Bürger wollten etwas Präziseres und bekämen es durch neue Parteien auch angeboten. Außerdem hätten sich fast alle Volksparteien Europas auf die Mitte zubewegt und damit "politische Räume freigemacht".

Wie im Supermarkt verlangen die Bürger auch in der Politik ein breites AngebotBild: picture-alliance/dpa

In Deutschland profitieren davon neben der rechten AfD auch die Grünen. Europaweit allerdings sind die Gewinner fast durchweg die Rechtspopulisten. In Italien wird die rechte Regierungspartei Lega von Innenminister Matteo Salvini mit jeder verbalen Breitseite gegen Flüchtlinge und gegen Europa nur noch stärker.

Die Methode Kurz...

Die alten Volksparteien gehen unterschiedlich mit der Herausforderung um. Der junge österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz etwa hat die altehrwürdige Österreichische Volkspartei umbenannt und auf sich selbst zugeschnitten: "Liste Sebastian Kurz - Die neue Volkspartei (ÖVP)" - unter diesem Namen trat sie zur Nationalratswahl 2017 an und konnte deutliche Zugewinne erreichen. Mit dem Wechsel an der Spitze ging ein scharfer Rechtsruck einher. Kurz scheute auch nicht davor zurück, mit der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei eine Koalitionsregierung einzugehen. Er selbst kann nach einem Jahr zufrieden sein. "Die Regierung in Österreich hat ein wirklich sehr gutes Ansehen", sagt der österreichische Meinungsforscher Wolfgang Bachmayer. Die harte Migrationspolitik der Koalition werde von einer großen Mehrheit der Bevölkerung befürwortet. "Die Situation könnte für die Regierung schwieriger werden, wenn es nicht mehr gelingt, alle Themen mit der Zuwanderung zu überlagern", glaubt allerdings der Politikwissenschaftler Peter Filzmaier.

Frisches Image für eine alte Partei: Österreichs Kanzler Sebastian KurzBild: Getty Images/AFP/G. Hochmuth

Florian Hartleb sieht zwar vieles an den politischen Verhältnissen in Wien "spezifisch österreichisch", er befürchtet aber mit Blick auf die Migrationsdebatte: "Uns droht in Deutschland ähnliches", nämlich ein deutlicher Rechtsruck. Eine Zusammenarbeit der alten Volksparteien auf Bundesebene mit der AfD hält Hartleb aber für ausgeschlossen - und das Modell der großen Koalition habe "keine große Zukunft mehr".

...und die Methode Macron

Eine andere Strategie als der Österreicher Kurz hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gewählt. Statt eine bestehende Partei zu kapern hat er scheinbar aus dem Nichts eine "Bewegung" gegründet und viele Nichtpolitiker für eine Mitarbeit gewonnen. Das wirkte neu und frisch und war zumindest am Anfang auch sehr erfolgreich - auch wenn sowohl Macron als auch seine Bewegung, die sich inzwischen Partei nennt, viel von ihrem Glanz verloren haben. Zweifelhaft findet Wolfgang Merkel die Struktur vor allem, weil sie "höchst autoritär" sei. Das verkenne man in Deutschland, "wenn wir auf der krampfhaften Suche nach einem Heilsbringer in Europa eine innovative Kraft suchen". Macron habe "die Kandidaten für die Parlamentswahl persönlich ausgesucht". Das sei "nicht nach demokratischen Regeln" abgelaufen, aber in der Öffentlichkeit gut angekommen.  

Neue rechte Volksparteien? Ungarns Premier Viktor Orban, Italiens Innenminister Matteo Salvini Bild: Getty Images/AFP/M. Bertorello

Gibt es in Europa noch eine echte Volkspartei? Politikwissenschaftler Merkel gibt darauf eine überraschende Antwort: "Viktor Orbans Fidesz-Partei ist eine Volkspartei." Nicht nur wegen ihrer Stärke, sie spreche auch Menschen aus allen Schichten an. "Das ist die perfide Nachricht, dass Rechtspopulisten auch zu Volksparteien aufsteigen können. Orbans Partei ist wahrscheinlich die letzte oder neueste Volkspartei par excellence in Europa."

Vielleicht ist alles gar nicht so schlimm

Die alten Volksparteien stellen ihren Niedergang manchmal als Bedrohung der Demokratie dar. Florian Hartleb hält das für übertrieben: "Ich warne vor Hysterie und Panikmache." Immerhin seien in den meisten europäischen Ländern rechtspopulistische Parteien nicht an der Macht. Außerdem gehe es nicht nur um Rechtspopulisten, sondern auch innerhalb der etablierten Parteien splittere sich das Spektrum auf. Und schließlich, so Hartleb, gebe es in Europa auch gegenläufige Entwicklungen wie den Aufstieg der Grünen. Wolfgang Merkel differenziert: Auf der individuellen Ebene des Wählers sei das größere Angebot positiv. "Aus der Sicht unserer Gesellschaft, die immer heterogener wird, bräuchten wir aber Brückenbauer und Integrationsmaschinen unter den Parteien, und das waren die Volksparteien." Die Demokratie, glaubt er, "kommt nicht ohne starke Parteien aus".

Das waren noch Zeiten, als CDU und SPD zusammen auf 80 Prozent und mehr kamen: Europawahl 1979Bild: picture-alliance/dpa

Das führt zurück zu der Frage, ob die Volksparteien etwas gegen ihren Abstieg tun können. Florian Hartleb sagt: ja: "Sie müssen sich modernisieren mit attraktivem Personal - denn viele Volksparteien haben auch ein Persönlichkeitsproblem -, und Themen positiv besetzen", in Deutschland beispielsweise die Energiewende oder die Digitalisierung. Wolfgang Merkel dagegen hält die Zeit der 30plus- oder 40plus-Parteien für "unwiderruflich vorbei". Sie könnten zwar wieder etwas mehr von der Mitte wegrücken, um damit Profil zu gewinnen, "aber sie können natürlich nicht die Individualisierung der Gesellschaft zurückholen".

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