Parteien-Streit um sexuelle Orientierung im Grundgesetz
5. August 2024Hunderttausende Teilnehmer demonstrierten im Juli in Berlin auf dem "Christopher Street Day" für die Anerkennung der Rechte von LGBTQ-Menschen. Die englische Abkürzung LGBTQ steht etwa für Lesben, Schwule und queere Menschen, schließt aber Menschen anderer Identität ein, wie Intersexuelle, Asexuelle, Bigender oder Pangender.
Einer von ihnen ist Wanja Kiber. Er stammt aus Kasachstan und erzählte am Rande des CSD der Deutschen Welle über seine Lebensgeschichte: "Wir sind nach Deutschland gekommen und ich habe mich ziemlich schnell geoutet. Und die erste Reaktion meiner Eltern war: Beruhigungsmittel schlucken, schweigen, weinen, dem Gespräch aus dem Weg gehen. Was war das für ein Gefühl, niemandem davon erzählen zu können, sich selbst für falsch zu halten? Für einen Verbrecher zu halten, für einen Kranken? Gar nicht existent zu sein?"
Christopher-Street-Day pocht auf Grundgesetzänderung
Mittlerweile, erzählt Wanja weiter, sei sein Vater sogar stolz auf ihn und setze sich selbst für LGBTQ-Rechte ein. Eine kleine Erfolgsgeschichte. Aber längst nicht alle haben so viel Beharrungsvermögen und Glück wie Wanja. Auch deshalb war eine der zentralen Forderungen auf dem "Christopher Street Day": Das Verbot, wegen seiner sexuellen Orientierung benachteiligt zu werden, muss explizit im Grundgesetz verankert werden. Das Grundgesetz ist die Verfassung Deutschlands.
So sagte etwa der bekannte deutsche Pop-Sänger Herbert Grönemeyer als Sprecher auf dem "Christopher Street Day", Artikel 3 des Grundgesetzes müsse ergänzt werden um den Zusatz, "dass niemand wegen seiner geschlechtlichen und sexuellen Identität benachteiligt werden darf". Man brauche Ausdauer und weiter viel Mut, rief der Sänger in die Menge.
Grundgesetzänderung nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit möglich
Bislang heißt es in Artikel 3 des Grundgesetzes: "Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden." Die sexuelle Identität wird also nicht ausdrücklich genannt. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung aus SPD, Grüne und FDP vom Dezember 2021 heißt es, die Regierung strebe eine Ergänzung der Formulierung an.
Das Problem: Soll das Grundgesetz verändert werden, ist eine Zweidrittelmehrheit sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat, der Vertretung der Länder, erforderlich. Die drei Regierungsparteien kommen aber zusammen nicht auf zwei Drittel der Sitze im Parlament. Sie brauchen deshalb die Zustimmung der größten Oppositionsparteien, den Konservativen von CDU und CSU. Und die halten nichts von der Idee. Sie halten die Erwähnung des Geschlechts im jetzigen Artikel 3 für ausreichend. Und wollen vor allem die Formulierung "sexuelle Identität" verhindern. Nicht weniger Beobachter finden: Weil sie diesen Begriff ihrer eher konservativen Wählerschaft nicht zumuten wollen.
Nur die CDU in Berlin denkt anders
Nachdem auf dem "Christopher Street Day" die Forderung erneut erhoben wurde, sagte etwa der Geschäftsführer der Unions-Fraktion im Bundestag, Thorsten Frei (CDU) dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND): "Um den Grundrechtekatalog, also die Herzkammer unserer Verfassung, anzutasten, bedarf es ganz besonderer Gründe. Für eine Änderung des Grundgesetzes sehe ich aber auch keinen Anlass, da der Diskriminierungsschutz aufgrund der sexuellen Orientierung bereits in Artikel 3 verwirklicht ist."
Darauf entgegnete der stellvertretende SPD-Fraktionschef Dirk Wiese: "Leider hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hierzu die Gespräche abgelehnt. Es ist daher zu begrüßen, dass einige CDU-Politiker aus den Ländern sich anders positionieren." Konkret gemeint ist damit Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU).
Die von ihm geführte Stadtregierung, der Berliner Senat, hatte bereits 2023 eine Bundesratsinitiative zur Ergänzung von Artikel 3 angekündigt. Zum "Christopher Street Day" vor einem Jahr sagte Wegner: "Wir wollen den Artikel 3 des Grundgesetzes ändern. Da muss die sexuelle Identität mit rein. Das ist mein Versprechen." Passiert ist seitdem allerdings nichts.
Nach der Ablehnung durch die CDU bemühten sich dennoch zahlreiche Koalition-Vertreter, noch einmal für eine Grundgesetzänderung zu werben. Für die Liberalen von der FDP sagte etwa der Bundestagsabgeordnete Konstantin Kuhle dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland", eine Änderung der Verfassung wäre "ein wichtiges Zeichen für die politische und gesellschaftliche Akzeptanz. Eine Änderung der Verfassung ist an dieser Stelle seit langem überfällig."
Homosexuelle in Deutschland bis 1994 diskriminiert
Ebenfalls schon lange weist der "Lesben- und Schwulenverband Deutschland" (LSVD) in Deutschland darauf hin, dass mit einer Änderung eine jahrzehntelange Benachteiligung von Homo - und Bisexuellen im Nachkriegsdeutschland beendet werden könnte. Als das Grundgesetz 1949 erdacht und verkündet wurde, seien Homo- und Bisexuelle als einzige Opfergruppe der Nationalsozialisten bewusst nicht ins Grundgesetz aufgenommen worden. Auch deshalb seien Homosexuelle noch lange Jahre durch den Paragrafen 175 im Strafgesetzbuch verfolgt worden, der erst 1994 endgültig abgeschafft worden sei.
International ist einerseits beim Schutz der Rechte von Menschen, die sich zur Gruppe LGBTQ rechnen, viel geschehen. Aber nicht überall. In Europa etwa gibt es in 22 Ländern die Ehe für alle, außerhalb Europas aber nur in 16 Ländern. Gleichgeschlechtliche Ehen können in Deutschland seit dem 1. Oktober 2017 geschlossen werden, nach einer jahrelangen hitzigen Debatte. In nur 20 Ländern weltweit gibt es Selbstbestimmungsgesetze zur rechtlichen Anerkennung des Geschlechts. Und ebenfalls eine Realität: In einem Drittel der Länder weltweit werden LGBTQ-Personen gesetzlich diskriminiert.