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Politik

Erdogan eskaliert: Kurdenpartei vor dem Aus

Daniel Derya Bellut
23. Juni 2021

Die türkische Regierung erhöht den Druck auf die pro-kurdische HDP - sie soll verboten werden. Für Kritiker ein Griff in die Trickkiste: Erdogan wolle das Land ins Chaos stürzen, um sich dann als Retter zu inszenieren.

Protest der pro-kurdischen Partei HDP
Proteste der pro-kurdischen Partei HDP- ist die Partei bald verboten? Bild: Yasin Akgul/AFP

Die Tragödie, die sich vergangenen Donnerstag in dem Parteibüro der Kurdenpartei HDP in Izmir ereignete, versetzte viele Türken in eine Schockstarre: Ein 27-jähriger mutmaßlicher Rechtsextremist drang - bewaffnet mit einer Kalaschnikow - in das Gebäude ein und eröffnete das Feuer. Er tötete eine 38-jährige Mitarbeiterin, die als einzige Person anwesend war.

Der Angriff hätte noch viel mehr Menschenleben kosten können - denn eigentlich sollte eine Versammlung unter der Teilnahme von namhaften HDP-Politikern stattfinden. Diese wurde spontan verschoben, ein Massaker wurde unfreiwillig abgewendet.

"Ich habe bereits seit meiner Kindheit geplant, PKK-Mitglieder zu töten. Mein Ziel war es, dort viele Leute anzutreffen. Doch es war nur eine Person da", gab der Täter auf der Polizeistation später zu Protokoll. Die PKK ist eine verbotene Kurdenmiliz, die von der Regierung und der regierungsnahen Presse - meist unbegründet - mit der HDP gleichgesetzt wird.

Hat Erdogan Hass gesät?

Daher macht die drittgrößte türkische Partei HDP die Regierung für die Bluttat mit verantwortlich. Die zahlreichen Stigmatisierungen hätten den Nährboden für die Attacke vergangene Woche bereitet, lautet die Kritik.

"Es ist die eine Sache, die Fehler einer Partei aufzuzeigen. Es ist eine andere Sache, sie zu dämonisieren. Wenn man eine Partei von morgens bis abends zu einem Unterstützer des Terrorismus erklärt, muss man sich nicht wundern, wenn sie den Weg für jemanden ebnet, der die HDP hasst und sie dann angreift", so der Meinungsforscher und Politologe İbrahim Uslu.

Zertrümmerte Fensterscheiben: Das Partei-Büro der prokurdischen HDP in Izmir nach dem Angriff Bild: DHA

Besonders die ultranationalistische MHP - der Koalitionspartner der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP - steht nach dem Angriff auf das HDP-Büro in der Kritik. Der Täter ließ sich vor seiner Tat auf Instagram mit dem sogenannten Wolfsgruss ablichten. Es ist das Zeichen der "Grauen Wölfe", einer rechtsextremistischen Bewegung, die der MHP nahesteht. Doch anstatt sich zu distanzieren, relativiert Bahceli den Mord: Die Getötete sei eine Milizin gewesen.

Kurdenpartei HDP vor dem Aus

Ankara hat in der jüngsten Vergangenheit den Druck auf die HDP erhöht: Auf die Stigmatisierung als "Terror-Partei" folgten die immer lauter werdenden Forderungen von Regierungsvertretern nach einem Parteiverbot. Die Generalstaatsanwaltschaft von Ankara reagiert auf den politischen Druck - im März reichte sie einen Antrag auf ein Verbot der HDP ein.

Die MHP und ihr Chef, Devlet Bahceli, zeigen kein Mitleid mit den OpfernBild: picture-alliance/AA/E. Sansar

Offensichtlich mit Erfolg: Das türkische Verfassungsgericht nahm diese Woche einstimmig die eingereichte Klage an und eröffnete ein Verbotsverfahren gegen die HDP. Die Begründung lautet, HDP-Mitglieder hätten mit ihren Aussagen und Handlungen beabsichtigt, die Integrität des Staates zu untergraben. Zudem seien sie an terroristischen Aktivitäten beteiligt gewesen. In fast allen Fällen ist die Beweislast jedoch dürftig und willkürlich. 

Kann Erdogan die Opposition spalten?

Viele türkische Beobachter gehen davon aus, dass der immer härter werdende Umgang mit der HDP wahltaktisch motiviert sei. "Die Regierung macht Politik, indem sie versucht, die Opposition zu spalten. Je mehr sie die HDP marginalisiert, desto mehr kann sie die Opposition spalten", meint der Journalist Levent Gültekin. Dies würde der Regierung das Überleben sichern.

In den vereinten Oppositionsblock reihen sich auch die sozialdemokratische CHP und die ultranationale IYI-Partei ein, die beide auch eine kurden-skeptische Wählerschaft hinter sich scharen. Eine zu kurdenfreundliche Politik und die Zusammenarbeit mit der HDP, die von der Regierung als "terroristisch" gebrandmarkt wird, könnte die Stammwählerschaft beider Parteien abschrecken, so das mögliche Kalkül der Regierung.

Anschlag bei einer HDP-Veranstaltung im Jahr 2015. Attentäter vom Islamischen Staat reißen 102 Menschen in den Tod Bild: Getty Images/G. Tan

Aufgrund der eskalierenden Haltung der Regierung werden für viele Beobachter Erinnerungen an die Geschehnisse im Jahr 2015 wach: Bei den vorletzten Parlamentswahlen im Juni 2015 entschieden sich viele Wähler für die prokurdische HDP, die erstmals mit 13 Prozent ins Parlament einzog - die AKP wiederum schnitt historisch schlecht ab.

Die Erdogan-Regierung reagierte umgehend: Die Rhetorik wurde nationalistischer, zudem begann eine Militäroperation gegen Kurdenmilizen in südostanatolischen Städten. Die Stimmung war aufgeheizt, Extremisten von der PKK oder der Terrormiliz IS begangen Anschläge in türkischen Städten.

Durch eine Eskalation zum Wahlsieg

Die bürgerkriegsähnlichen Tumulte führten dazu, dass sich große Teile der türkischen Bevölkerung nach Stabilität und einer starken Führung sehnten. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im November 2015 erhielt die AKP dann wieder die absolute Mehrheit. Weil die türkische Regierung zurzeit schlechte Umfragewerte vorzuweisen hat, wird erwartet, dass Erdogan wieder in die gleiche Trickkiste greift.

Co-Vorsitzender der HDP, Mithat SancarBild: picture alliance/dpa/R. Jensen

"Was sie versuchen, ist wie eine Wiederholung der blutigen Spielchen, die wir in der Vergangenheit gesehen haben. Wir erinnern uns daran, was zwischen dem 7. Juni und dem 1. November abgespielt hat", so etwa der Co-Vorsitzende der HDP, Mithat Sancar. Der Grund für die feindselige Politik sei, "dass eine Ausnahmesituation geschaffen wird, um ein Klima der Angst zu verbreiten". Nur daher hätte die AKP die Wahlen damals doch noch für sich entscheiden können, urteilt der Journalist Kemal Can.

Kurdische Wähler haben Alternativen

Bisher sind von der kurdischen Seite keine aggressiven Gegenreaktionen auf das sich anbahnende Parteiverbot zu vernehmen - eine Eskalation zeichnet sich nicht ab. Und auch wenn Erdogan es tatsächlich gelingen sollte, die Kurdenpartei zu zerschlagen, bedeutet das nicht zwangsläufig ein Wettbewerbsvorteil bei den kommenden Wahlen.

Die ungefähr sechs Millionen kurdischen Wählerstimmen würden nicht einfach verloren gehen: Eine neue kurdische Partei könnte sich formieren. Auch ist es möglich, dass die kurdischen Wähler auf eine andere Oppositionspartei ausweichen - die größte Oppositionspartei CHP hat sich zuletzt der HDP gegenüber geöffnet und könnte sehr bald eine Alternative darstellen.

Mitarbeit: Batu Bozkürk.  

 

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