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Patti Smith wird 75

29. Dezember 2021

Gerne wird sie "Godmother of Punk" genannt. Andere nennen sie "Grande Dame des Alternative-Rock". Patti Smith aber ist aus tiefstem Herzen Poetin. Und danach kommt die Musik.

Patti Smith US Sängerin
Bild: picture-alliance/dpa/Q. Garcia

Patti Smith wird am 30. Dezember 1946 in Chicago geboren und wächst mit ihren Geschwistern in New Jersey auf. Die Mutter ist Zeugin Jehovas, der Vater Atheist. Die Kinder werden in strengem Glauben erzogen. Patti will Lehrerin werden. Während des Studiums wird sie schwanger. Sie bekommt das Kind und gibt es zur Adoption frei. Das Studium bricht sie ab. Sie ist noch keine 20, als es sie in die Künstlerszene von New York verschlägt, wo sie das pralle Leben abbekommt: Kunst, Drogen, Musik, extreme Leute, kreative Köpfe, Partys, Bewusstseinserweiterung. Ihre Idole sind damals die Dichter Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud (dessen Haus sie Jahrzehnte später kaufen wird), die Musiker Jimi Hendrix, Brian Jones und Jim Morrison.

Poesie im Punk-Club

Sie geht in die Kneipen und Clubs, um dort ihre Gedichte vorzutragen, im Vorprogramm von Rockbands. Ihr erster großer Auftritt ist im Februar 1971: Patti Smith steht im Rahmen einer angesagten Poetry-Reihe auf der Bühne, im Publikum sitzen die New Yorker Szene-Stars: Allen Ginsberg, Andy Warhol, Lou Reed, Sam Shepherd und andere. Sie trägt ihr 60 Sekunden langes Gedicht "Oath" vor: "Christ died for somebody's sins, but not mine (...) Christ, I'm giving you the goodbye, firing you tonight. I can make my own light shine." Ein Gruß an ihre Mutter, deren Religiosität Patti in ihrer Kindheit fast erstickt hatte.

1978 im Londoner Rainbow TheatreBild: Imago/ZUMA/Keystone

In den folgenden Jahren bringt sie "Oath" immer wieder zu Gehör, manchmal auch begleitet vom Gitarristen Lenny Kaye, der ihre Worte mit schrägen und verzerrten Akkorden untermalt. Sie veröffentlicht zwei Gedichtbände. "Oath" kommt nicht drin vor. Das hebt sie sich für etwas anderes auf, sie weiß nur noch nicht, für was.

Sie jammt mit Gitarrist Lenny und dem Keyboarder Richard Sohl. "Unsere Songs hatten drei Akkorde", erzählt Patti dem US-Radiomagazin "Fresh Air" 2006, "damit ich gut drauf improvisieren konnte." Schon bald haben sie sich für eine erste Single entschieden: Eine Coverversion von Jimi Hendrix' "Hey Joe".

Doch "Oath" ist nicht vergessen. Die Worte sollen noch verarbeitet werden. Aber wie? Der Song "Gloria" aus der Feder von Van Morrison wabert monatelang in den Köpfen der Musiker, immer wieder packen sie ihn an. Patti schreibt Texte um Texte, verwirft sie immer wieder, bis sich das Gedicht "Oath" seinen Weg in den Song bahnt. Die Band beginnt, "Gloria" live zu performen. Eine der ersten Live-Aufnahmen zeigt gut hörbar den Aha-Effekt beim Publikum, als die inzwischen berühmte Zeile ertönt: "Jesus died for someone's sins...".

Die Geburt des "Garage Rock"

1975 ist die Patti Smith Group vollzählig. Unter den Fittichen von Produzent und Velvet Underground-Urgestein John Cale entsteht das erste Album "Horses". Auf dem Cover, aufgenommen vom Fotografen Robert Mapplethorpe, Pattis erster Liebe und bestem Freund: Patti als fast androgynes Wesen mit wilder dunkler Mähne, schlank, zart, mit weißem Herrenhemd und einem schmalen schwarzen Band, das wie eine offene Krawatte aussieht, über der Schulter trägt sie lässig ein Herrenjackett.

Und innendrin: Poesie. Mal laut und unkontrolliert. Mal intensiv und betörend. Patti Smith setzt alles ein, was ihre Stimme hergibt. Melodie, Sprechgesang, Rezitation, Improvisation. Die Rockszene feiert das Album. Es sei das beste Garage-Sound-Album der 70er, schreibt das US-Magazin "Creem". In der deutschen "Sounds" freut man sich über den "Sound, in dem Rock-Riffs und Sprachrhythmen verschmelzen". Als erstes sogenanntes "New Underground"- Album schafft "Horses" den Sprung in die Charts. Der "Rolling Stone" kürt die Platte zu einem der 500 besten Alben aller Zeiten.

Eins der berühmtesten Cover der RockgeschichteBild: Arista Usa/Sony Music

Godmother of Punk?

"Horses" kommt zeitgleich mit den Anfängen des Punk in New York. Patti Smiths wilde Unangepasstheit reißt die Musikwelt dazu hin, sie genau in diese Schublade zu drängen und ihr sogar den Titel "Godmother of Punk" zu verleihen. In einem BBC-Interview sagt sie später: "Sie haben mir alle möglichen Bezeichnungen gegeben, 'Prinzessin der Pisse' oder 'Wildes Rock'n'Roll-Mustang' - aber ich war nicht wirklich ein Punk, und meine Band war nie eine Punkband."

Dennoch spielt Patti eine Schlüsselrolle - zumindest im US-amerikanischen Punk. Der Kern von Pattis Musik ist nicht Anarchismus und Nihilismus, sondern der feste Glaube daran, dass Rock'n'Roll etwas bewegen kann, vielleicht sogar die Welt verändern. So wie es ihre Rock-Helden aus den 1960ern vorgemacht haben.

"Horses" steht bis heute stellvertretend für die Musik, die von der Straße kommt, die Schmutz und Gefühle transportiert, schonungslos und ehrlich, kratzig und unbequem ist. Patti sagt: "Ich spreche zu denen, die so sind wie ich, zu den Entrechteten, zu den Einzelgängern, und sage ihnen: 'Verliert nicht euer Herz, gebt nicht auf.'"

Die Briten, die ihre Sex Pistols verehren und den New Yorker Ramones hohen Respekt entgegenbringen, schauen interessiert zu. Für sie ist die Musik von Patti Smith kein Punk. Sondern "gut produzierter und kompetent gespielter Rock'n'Roll", wie etwa der Punk-Kenner Charles Shaar Murray 1976 im "New Musical Express" schreibt.

Nach "Frederick" reicht es

Das zweite Album der Patti Smith Group, "Radio Ethiopia" (1976), schlägt nicht so ein, Patti übertreibt es zuweilen mit ihrer Intensität, manchmal grenzt es an "extravaganter Verwirrtheit" (Rock Rough Guide). Dennoch wird es wegen seines rauen Alternative-Rock geachtet. 1978 folgt "Easter" mit dem ersten kommerziellen Hit: Mit "Because the Night" kommt der weltweite Durchbruch. Den Entwurf dazu hat übrigens Bruce Springsteen geliefert. Weitere Hits kommen nach: Das Album "Wave" (1979) liefert gleich zwei berühmte Songs: "Dancing Barefoot" und "Frederick". Von der wilden Ungezähmtheit der ersten Platten ist nicht mehr viel übrig. Es sieht so aus, als habe Patti Smith ihren Job getan - als weiblicher Messias der Unangepassten.

Tatsächlich ist erst mal Schluss mit Musik. Patti zieht sich mit Ehemann Fred Smith und ihren Kindern ins Familienleben zurück. Sie schreibt wieder Gedichte, macht 1988 nochmal eine Platte mit ihrem Mann, die aber keiner hören will. Mitte der 1990er erlebt sie eine dunkle Zeit: Innerhalb weniger Monate verliert sie ihren Mann, ihren besten Freund, ihren Bruder und den Pianisten ihrer alten Band. Sie ist pleite. Aber nicht vergessen. Nach wie vor übt sie große Wirkung auf Musikgrößen wie Kurt Cobain und Michael Stipe von R.E.M. aus. Sie tritt vereinzelt wieder auf, alte Freunde melden sich wieder.

Und dann kommt Bob Dylan

Von der Mähne trennt sich Patti Smith bis heute nichtBild: picture-alliance/Pacific Press/A. Bosio

Schließlich holt Bob Dylan sie wieder ins Rampenlicht. Patti aktiviert ihre alte Band, sie treten in Dylans Vorprogramm auf und versprühen ihren alten Spirit. Das Publikum bedankt sich mit großem Enthusiasmus. 20 Jahre nach "Horses" geht die Band wieder ins Studio. Das Album "Gone again" kommt. Eine Sammlung düsterer, anrührender Songs - ein Andenken an ihren verstorbenen Mann.

Und so passt es denn auch sehr gut, als Patti Smith Bob Dylan bei der Verleihung seines Literaturnobelpreises im Dezember 2016 vertritt. Sie singt Dylans "A Hard Rain's a-Gonna Fall", hat mittendrin einen Aussetzer, entschuldigt sich mit den Worten "Es tut mir Leid, ich bin so nervös" und singt den Song dann zu Ende. Kurz darauf veröffentlicht sie den Essay "How does it feel" im "The New Yorker". Dort erzählt sie, dass sie das Lied unterbrechen musste, weil sie "übervoll an Emotionen war". 

Der kleine Aussetzer bei der Preisverleihung hat die Ikone nicht zu Fall gebrachtBild: Getty Images/P. Le Segretain

2020 erhält Patti Smith den Internationalen Beethovenpreis für Menschenrechte, Frieden, Freiheit, Armutsbekämpfung und Inklusion.

Bis heute tritt Patti Smith auf. Ihre ungebändigte Mähne ist inzwischen grau geworden, die Kraft ihrer Songs hat jedoch nicht nachgelassen. Ob es ihre alten Hits sind oder ihre eigenwilligen Coverversionen von großen Rocksongs wie "Gimme Shelter" von den Stones oder "Smells like Teen Spirit" von Nirvana; ob sie auf ihren Platten Country, Pop oder Jazz zu Gehör bringt, ob sie Gedichte oder Bücher schreibt - Patti Smith ist und bleibt eine Lyrikerin, die ihre Poesie durch ihre Musik transportiert hat.

Am 31.12.2021 widmet sich die Deutsche Welle mit einem Thementag der Popmusik. "Pop24" läuft ab 9 Uhr MEZ 24 Stunden lang auf DW Deutsch und DW Deutsch+ und im DW-Stream.

Silke Wünsch Redakteurin, Autorin und Reporterin bei Culture Online
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