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Politik

"Wir sterben den sozialen Tod"

Tunca Öğreten
22. Januar 2020

134.000 Menschen verloren in der Türkei nach dem Putschversuch 2016 ihre Arbeit. Die meisten sind noch arbeitslos, müssen um Gesundheitsleistungen und Rente kämpfen. Viele leiden unter posttraumatischem Stresssyndrom.

Türkei -
Bild: picture-alliance/Ap Photo/P. Karadjias

Tahsin Uysal ist 56 Jahre alt. Einst arbeitete er als Lehrer an einer Berufsschule in der südtürkischen Großstadt Adana. Aber das ist Geschichte. Uysal ist einer von zehntausenden Staatsbediensteten, die nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation per Dekret ihres Dienstes enthoben wurden.

Ihm wird vorgeworfen, dass er Mitglied einer Gewerkschaft ist, die der Gülen-Bewegung nahestehen soll. Deren Wortführer, der Prediger Fethullah Güllen, lebt seit Jahren im Exil in den USA. Die Regierung in Ankara macht ihn und seine Bewegung für den Putschversuch verantwortlich. Jahrzehntelang hatten Anhänger der Gülen-Bewegung führende Positionen in Staatsämtern, sie leiteten Schulen, Gewerkschaften, Banken. Heute behandelt die Regierung jeden als potenziellen Terroristen, der etwa ein Konto bei einer dieser Banken hat oder dessen Kind eine dieser Schulen besucht.

Darunter leiden ganze Familien. Denn die Regierung streicht auch ihren Angehörigen die Gelder für die Pflege altersschwacher oder kranker Angehörigen. In der Türkei gibt es für diese Menschen bereits einen festen Ausdruck. Sie werden "KHKler" genannt - in Anlehnung an das türkische Wort für Dekret: "Kanun Hükmünde Kararname". Tahsin Uysal kam erst in Untersuchungshaft und saß dann acht Monate lang im Gefängnis.

"Mein einziges Vergehen war, dass ich Gewerkschaftsmitglied bin": Tahsin UysalBild: privat

Als er freikam, wollte er den ihm zustehenden Rentenanspruch geltend machen. Monate vergingen, bis er endlich eine Behörde fand, die überhaupt bereit war, seinen Antrag anzunehmen. Als Uysal schließlich seinen Rentenbescheid erhielt, verweigerte man ihm einen ihm zustehenden Rentenbonus. Er zog vor Gericht und gewann. Seine Abfindung deckte gerade einmal die Anwalts- und Gerichtskosten. Zudem sperrte man ihm seine Konten und Kreditkarten.

In der Folge legte die Staatsanwaltschaft Widerspruch gegen seine Freilassung ein, und Uysal erhielt eine Gefängnisstrafe von sechseinhalb Jahren, die das Oberste Gericht allerdings noch bestätigen muss.

Auch seine Familie bekam den langen Arm des Staates zu spüren. Seine Tochter, eine Akademikerin, kam aufgrund der Situation ihres Vaters ebenfalls in Untersuchungshaft. Sie wurde freigesprochen, an ihren Arbeitsplatz zurückkehren durfte sie aber nicht.

Die Entwicklungen setzten Uysals Familie stark zu. Seine Frau erkrankte an Krebs. Dennoch gibt sich Uysal bis heute optimistisch. "Wir werden nicht aufhören zu kämpfen", sagt er und ist überzeugt: "Irgendwann werden die Ungerechtigkeiten ans Tageslicht kommen. Wir sind keine bewaffneten Terroristen und auch keine Staatsfeinde. Mein einziges Vergehen war, dass ich Gewerkschaftsmitglied bin."

Lange Liste von Verboten und Schikanen

Seit dem Putschversuch 2016 wurden aus verschiedenen Bereichen insgesamt 134.000 Personen per Dekret entlassen. In Internetforen tauschen sich die Betroffenen über ihre Erfahrungen aus. Die Liste der Fälle, die sie zusammengetragen haben, reicht von der aussichtslosen Suche nach einem Job bis zu der Erfahrung, dass Ärzte ihnen willkürlich die Behandlung verweigern, oder dass ihnen der Pass entzogen wird. Einige berichten davon, keine Anstellung in staatlichen Unternehmen zu bekommen, andere von Kündigungen. Studierende müssen auf Stipendien verzichten. Andere berichten davon, keine Wohnungen vermietet zu bekommen. Die Betroffenen sprechen von "sozialem Lynchmord".

Nach offiziellen Angaben haben 126.000 Menschen einen Antrag auf Wiedereinstellung bei der Ausnahmezustands-Kommission eingereicht. Bislang hat die Kommission 78 Prozent der Anträge bearbeitet. 88.700 dieser Anträge lehnte die Kommission ab. Bislang konnten lediglich 9.600 Menschen an ihren Arbeitsstellen zurückkehren. 28.000 "KHK'ler" warten noch immer auf eine Entscheidung der Kommission.

Der endlose Ausnahmezustand

Ömer Faruk Gergerlioğlu, Arzt und Abgeordneter der pro-kurdischen Partei HDP in Kocaeli, ist auch ein "KHK'ler". Er ist der einzige Abgeordneter, der sich mit dem Thema beschäftigt. Die Türkei befinde sich in einem nicht enden wollenden Ausnahmezustand, so Gergerlioğlu, obwohl mittlerweile drei Jahre seit dem Putschversuch vergangen sind.

Ömer Faruk Gergerlioğlu: Die Türkei befindet sich in einem nicht enden wollenden AusnahmezustandBild: Privat

"Millionen von Menschen spüren weiterhin die Auswirkungen", sagt er. "Viele von ihnen suchten vergeblich nach Arbeit im Privatsektor, etlichen wurde die Ausreise ins Ausland untersagt. Sie durften Angebote des Arbeitsamtes nicht in Anspruch nehmen, und die Stadtverwaltungen verhinderten, dass diese Leute ihre eigenen Unternehmen gründeten. Oftmals konnten sie nicht einmal Geld abheben, das ihnen aus dem Ausland geschickt wurde."

Für Gergerlioğlu sind das "Nazimethoden, die darauf abzielen, die Menschen zu brechen".

Vom Lehrer zum Hausmeister

B.O., der seinen vollen Namen nicht nennen will, ist 33 Jahre alt und eigentlich Geschichtslehrer. Auch er hat viel erlebt in den vergangenen drei Jahren. Auch er wurde entlassen, kam in Untersuchungshaft. Man beschuldigte ihn, die Messenger-App "By Lock" zu verwenden, mit der man verschlüsselte Nachrichten versenden kann. Als herauskam, dass er - wie viele andere - ohne sein Wissen auf diese App umgeleitet worden war, sprach man ihn frei. Die Regierung behauptet, dass die App von der Gülen-Bewegung genutzt wird.

Im Anschluss war der junge Mann monatelang arbeitslos. Um seine Frau und seine zwei Kinder versorgen zu können, zog O. in eine andere Stadt, fand eine Arbeit als Hausmeister, wurde aber nach drei Tagen schon wieder entlassen, weil auch er ein "KHK'ler" ist. Erst später fand der 33-Jährige eine andere Anstellung als Hausmeister, wo er ein Jahr lang arbeitete. In der Zwischenzeit wurde ihm die finanzielle Unterstützung, die er für die Pflege seiner kranken Schwiegermutter bekam, gestrichen. Mittlerweile ist er Nasennebenhöhlenkrebs erkrankt, den er zu besiegen versucht.

"Schlimmere Auswirkungen auf die Psyche als ein Erdbeben"

Haluk Savaş ist Professor für Psychiatrie und selbst "KHK'ler". Seine besorgniserregende Diagnose: "Diese Menschen, leiden oft unter großen seelischen Schmerzen und haben das Gefühl, von der Gesellschaft isoliert zu werden. Neben den Leiden, der Erschöpfung und Krankheiten weiß man mittlerweile in der Trauma-Forschung, dass die Qualen, die Menschen sich gegenseitig zufügen, schlimmere Auswirkungen auf die Psyche haben als etwa ein Erdbeben" so Savaş.

Hunderttausende Betroffene und Millionen ihrer Angehörigen hätten ein Posttraumatisches Stress-Syndrom, sagt Savaş, also ein Leiden, wie man es sonst von Misshandelten, von Kriegsteilnehmern oder Unfallopfern kennt. Diese Menschen durchlebten immer wieder ihre Erfahrungen aus der Vergangenheit, hätten Schlafstörungen und Alpträume.

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