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Peter Magyars Marsch zu den Auslandsungarn - und zur Macht

26. Mai 2025

Ungarns Oppositionsführer Peter Magyar marschiert zu Fuß durch Ungarn bis nach Rumänien. Er hört Menschen in Dörfern zu und will die Herzen der Auslandsungarn erobern. Letzteres ist für einen Wahlsieg unabdingbar.

Ein Mann in einem weißen Trachtenhemd und einer blaubestickten Weste steht an einem Mikrofon und spricht. Um ihn herum sind Zuhörer zu sehen
Der ungarische Oppositionsführer Peter Magyar beendet seinen Protestmarsch in der rumänischen Stadt OradeaBild: Kontroll Media

An diesem Tag trägt er ein weißes Trachtenhemd und eine mit blauen Blumen bestickte Weste. Gegen neun Uhr morgens überquert er mit seinen einigen Dutzend mitmarschierenden Freunden und Anhängern den ungarisch-rumänischen Grenzübergang. Zur Mittagszeit hat er das Ziel des Marsches erreicht, die nordwestrumänische Stadt Oradea (ungarisch: Nagyvarad, deutsch: Großwardein). Auf dem Weg dahin sprechen ihn immer wieder Leute an, wollen ein Selfie mit ihm oder ihm die Hand drücken, immer wieder hupen Autofahrer grüßend.

Später, in seiner Rede am Rande der Festung von Oradea, sagt er vor hunderten Versammelten: "Der Countdown hat begonnen. Die Ungarn wollen nach Europa, sie haben genug von Diktatur und Spaltung. Sie wollen Frieden, Ruhe und Wohlstand."

Oradea am vergangenen Samstag (24.05.2025): Hier endet der elftägige Marsch "Eine Million Schritte" des ungarischen Oppositionsführers Peter Magyar - seine neueste spektakuläre Politaktion inmitten einer beispiellosen Hass- und Hetzkampagne des Ministerpräsidenten Viktor Orban und seiner Regierung gegen alle Andersdenkenden. Orban wirft Magyar und dessen Partei Tisza (Respekt und Freiheit) ohne jedwede Belege vor, für den ukrainischen Geheimdienst zu arbeiten und Landesverrat zu begehen. Außerdem will Orbans Regierung Kritiker per Gesetz mundtot machen.

Immense emotionale Bedeutung

Der Fußmarsch Magyars begann am 14.05.2025 in der ungarischen Hauptstadt Budapest und führte über 300 Kilometer bis ins nordwestrumänische Oradea, wo viele ethnische Ungarn leben. Es ist ein Marsch, auf dem Magyar sich die Sorgen und Nöte der Ungarn im Land anhört und der den Anfang vom Ende der Orban-Ordnung markieren soll. Magyar nennt keine Namen und Beispiele, doch in Anspielung auf Mahatma Gandhi und Martin Luther King vergleicht er seinen Marsch immer wieder mit berühmten anderen Märschen der Geschichte. Auch wenn das zu hoch gegriffen ist - einen Marsch wie den von Magyar gab es bisher in Ungarn noch nicht.

Ungarns Oppositionsführer Peter Magyar marschiert mit Anhängern und Unterstützern durch Ungarn - und zu den Auslandsungarn in RumänienBild: Marton Monus/REUTERS

Ganz bewusst endet er in einer rumänischen Großstadt mit bedeutendem Einwohneranteil ethnischer Ungarn. Die Doppelstaatsbürger unter den Auslandsungarn sind nicht einfach nur wichtige Wähler bei ungarischen Parlamentswahlen. Sie haben traditionell eine immense emotionale Bedeutung für die ungarische Gesellschaft, darunter vor allem die ethnischen Ungarn in Siebenbürgen und in anderen Regionen wie dem Partium, in der auch Oradea liegt.

Trianon-Trauma

Die Siebenbürger Ungarn gelten in der politischen Mythologie Ungarns als die hartnäckigsten Freiheitskämpfer und Bewahrer des traditionellen Ungarntums. Einer der Auslöser für das Ende der kommunistischen Diktatur in Ungarn 1989/90 waren die Proteste gegen den Irrsinn des Ceausescu-Regimes im benachbarten Rumänien. Dort plante der Diktator die Zerstörung von bis zu 7000 Dörfern, wovon auch viele ethnische Ungarn betroffen gewesen wären. In Ungarn fanden ab 1988 Massenproteste gegen Ceausescu und breite Solidaritätsaktionen für die Brüder und Schwestern im Nachbarland statt. 

Sehr tief für die meisten Ungarn liegt auch das "Trianon-Trauma". 1920 besiegelte der Vertrag von Trianon die Aufteilung von zwei Dritteln des ungarischen Territoriums an Ungarns Nachbarländer, womit große Teile der Bevölkerung über Nacht Bürger anderer Staaten wurden.

In den vergangenen Jahren brachten die Stimmen der Auslandsungarn zwar im Schnitt nur zwei Mandate im Parlament. Doch wer das Thema ignoriert oder sich gar gegen die Auslandsungarn stellt, der kann in Ungarn schlicht keine Wahl gewinnen.

Schwerer Fehler Orbans

Ginge es nach den aktuellen Umfragen, dann würden Peter Magyar und seine Tisza-Partei in einer Parlamentswahl locker über Orban und seinen Fidesz siegen - die reguläre Wahl steht im Frühjahr 2026 an. Allerdings ist Magyar bisher vor allem deshalb erfolgreich, weil er die verbreitete Korruption in Orbans System und die schlechte öffentliche Infrastruktur anprangert, darunter die schlechten Zustände im Bildungs- und Gesundheitswesen. Damit spricht er große Teile der ungarischen Gesellschaft an, die nach 16 Jahren ununterbrochener Herrschaft Orbans müde von ihm sind.

Demonstration der oppositionellen Tisza-Partei in Budapest am 15.03.2025, dem ungarischen Nationalfeiertag Bild: Attila Kisbendek/AFP/Getty Images

Nun aber weitet Magyar seine politische Strategie aus. Zum einen widmet er dem Thema der Auslandsungarn mehr Aufmerksamkeit. Zugute kommt ihm dabei ein schwerer politischer Fehler Viktor Orbans vor der Präsidentschaftswahl in Rumänien vom 18.05.2025. Der ungarische Premier hatte für den prorussischen Rechtsextremisten George Simion geworben, der auch für seine gewalttätigen antiungarischen Aktionen bekannt ist. Unter anderem hatten er und seine Anhänger 2019 ungarische Gräber eines gemeinsamen ungarisch-rumänischen Soldatenfriedhofs in den südostsiebenbürgischen Karpaten verwüstet. Für die siebenbürgischen Ungarn war die Aktion ein nachhaltiger Schock.

Orban hatte sich dennoch für Simion ausgesprochen - und war damit auf Widerspruch in der ansonsten ihm treu ergebenen politischen Führung der ungarischen Minderheitenpartei in Rumänien, UDMR, gestoßen. Die ethnischen Ungarn in Rumänien hatten in Rekordzahl für Simions liberalen Kontrahenten Nicusor Dan gestimmt - und ihm zur Präsidentschaft verholfen.

Orban opfert Interessen der Auslandsungarn

Peter Magyar nutzte das Ganze nun in seiner Rede in Oradea, um Orban als jemanden darzustellen, der das Wohlergehen der Auslandsungarn umstandslos seinen Machtinteressen opfert - und das, obwohl es in Ungarn ein durch Orbans Partei selbst verankertes Verfassungsgebot ist, sich um die Auslandsungarn zu kümmern.

Viktor Orban (rechts), Robert Fico und Aleksandar Vucic treffen sich in der Slowakei am 22.10.2024Bild: Robert Nemeti/Anadolu/picture alliance

Tatsächlich handelt Orban nicht nur im Fall der Siebenbürger Ungarn so. Er pflegt engste Beziehungen zum serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic und zum slowakischen Premier Robert Fico, die beide eine lange Tradition aggressiver minderheitenfeindlicher Politik haben, die sich speziell auch gegen die ungarische Minderheit in ihren Ländern richtet. Auch mit seiner Kampagne gegen eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine stellt sich Orban bewusst gegen die Interessen der dortigen ungarischen Minderheit, deren Angehörige klar für eine EU-Perspektive ihres Landes sind.

Zerrüttete Freundschaften und Familien

Magyar setzt auch in anderer Hinsicht neue Akzente. Er ist sichtlich bemüht, in seinen Reden mehr unterzubringen als nur Anti-Orban-Botschaften. Er formuliert bewusst positive Botschaften und verwendet oft Begriffe wie "Frieden", "Versöhnung", "Zusammenhalt" und "Einheit".

Denn die ungarische Gesellschaft leidet inzwischen psychisch stark unter dem von Orban extrem polarisierten, dauervergifteten öffentlichen Klima - fast alle Ungarn können davon berichten, wie politische Streitigkeiten Freundschaften und Familien zerrüttet haben. Gerade erst hat Orban einen so genannten "Fight Club" gegründet, mit dem jüngere Leute im Internet seine Propaganda verbreiten sollen. Ungarn wirkt unter Orban immer mehr wie ein Land im totalen propagandistischen Krieg

Zehn Tage lang ist Peter Magyar unterwegs durch Ungarn und bis nach Rumänien, wo eine große ungarische Minderheit lebtBild: Marton Monus/REUTERS

Dass Magyar auf seinem Marsch der Million Schritte tatsächlich hunderte von Kilometern zu Fuß geht, um sich bis in kleinsten Dörfern anzuhören, was die Menschen umtreibt, dürften viele als Geste der Demut und des echten Interesses interpretieren, die sie bei Orban und seinem Machtzirkel vermissen. Orbans Familie und enge Weggefährten fallen immer öfter durch ihr Zur-Schau-Stellen von Luxus-Statussymbolen wie teure Sportwagen oder Handtaschen auf.

Selfie-Marathon

Ob Magyars Botschaften bei den Auslandsungarn ankommen, muss sich erst noch zeigen. Immerhin unterstützt das Orban-System vor allem die Siebenbürger Ungarn mit umgerechnet einigen hundert Millionen Euro jährlich. Doch an diesem Samstag hat Magyar die meisten Zuhörerinnen und Zuhörer in Oradea offenbar auf seiner Seite. Nach seiner Rede, so ist es in Videoberichten zu sehen, absolviert er einen Selfie-Marathon, eine Frau überreicht ihm ein Glas Selbsteingemachtes, eine andere zeigt ihm ein Fotoalbum. Viele scheinen eher neugierig und sagen, dass sie Magyar nicht richtig kennen würden, es aber an der Zeit für einen Machtwechsel in Ungarn sei.

Magyar wiederholt auf der anschließenden Pressekonferenz unterdessen beständig sein Mantra: "Dies ist der Anfang von etwas Neuem." Er könnte recht behalten.