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Musik

Sellars: Wir lassen die Frauen aus der Bibel zu Wort kommen

Rick Fulker
14. April 2017

Der US-amerikanische Theaterregisseur Peter Sellars erzählt die Passionsgeschichte einmal anders. Im DW-Interview erklärt er, warum die Oper "The Gospel According to the Other Mary" nicht nur in die Osterzeit passt.

Inszenierung "The Gospel According to the Other Mary" von Peter Sellars
Bild: Thilo Beu

Dass ein Texter mit einem Komponisten eng zusammenarbeitet, kommt oft vor. 2012 etwa lieferte der amerikanische Regisseur Peter Sellars den Text für "The Gospel According to the Other Mary", eine Oper des amerikanischen Komponisten John Adams. Viel seltener ereignet es sich, dass der Librettist auch die Regie führt, so wie in der ersten szenischen Darstellung des Werks an der English National Opera in London, die aktuell an der Oper Bonn zu sehen ist.

Als Professor an der University of California in Los Angeles unterrichtet Peter Sellars zu Themen wie "Kunst als gesellschaftliche Aktion" und "Kunst als moralische Aktion". Seit 1980 ist er als hochkreativer Opern- und Theaterregisseur bekannt. Für "The Gospel According to the Other Mary" stellte er Texte aus der Bibel mit Texten aus historischen und zeitgenössischen Quellen zusammen. Sie reichen von Schriften der mittelalterlichen Mystikerin Hildegard von Bingen bis hin zu Texten von Dorothy Day, einer politischen Aktivistin des 20. Jahrhunderts. Nach wochenlangen Proben sprach Sellars kurz vor der Premiere in Bonn mit der DW und teilte seine Ansichten zu einem Werk mit, an dem er inzwischen seit fünf Jahren arbeitet.

DW: Es ist ein ungewöhnliches Erlebnis, mit jemandem zu sprechen, der nicht nur eine Oper inszeniert, sondern auch die Texte dafür zusammengestellt hat. Was können Sie mir zu Ihrer Arbeit mit John Adams erzählen?

Peter Sellars: Wir kennen uns inzwischen seit 30 Jahren. Dies ist, glaube ich, unser siebtes gemeinsames Stück. John schreibt keinen Takt Musik, ehe ihm das vollständige Textbuch vorliegt. In diesem Fall kam aber die Ursprungsidee von ihm. Er wollte eine Passion komponieren.

Damals war ich mit einer Inszenierung von Bachs Matthäuspassion bei den Berliner Philharmonikern beschäftigt und vertiefte mich gerade in Bachs Dramaturgie. Bachs Passionen sind so aufgebaut: Auf ein Bibel-Zitat folgt ein Gedicht - etwa von Bachs Freund, dem Dichter Picander - das die Bibelverse reflektiert und einen zeitgenössischen Bezug hat. Deshalb funktioniert der Text bei Bach insgesamt wie eine fantastische Collage, die durch die Jahrhunderte fortschreitet. Es ist eine beeindruckende und schöne Struktur. Vieles davon habe ich übernommen.

Die zentrale Figur in Bachs Matthäuspassion ist Maria Magdalena. Sie singt die meisten Arien. Ich dachte mir: Lasst uns diese Idee aufgreifen und weiterentwickeln. Bei uns fängt das Drama in Bethanien an. Dort lässt Jesus Marias Bruder Lazarus vom Tod auferstehen. Da erkennt man, dass dies eine Art Generalprobe für seine eigene Auferstehung ist.

In dieser politisch turbulenten Zeit, die wir im Moment erleben, mit so vielen schlechten Nachrichten jeden Tag, konnte ich einfach kein reines Passionsstück schreiben, das am Karfreitag endet und alle traurig macht. Ich dachte mir: Ich muss mit einer Auferstehungsgeschichte beginnen - und das Stück mit einer weiteren Auferstehung zum Abschluss bringen.

Peter Sellars interessiert sich für die gesellschaftlichen und moralischen Dimensionen von KunstBild: Thilo Beu

Maria Magdalena ist eine interessante Figur. Überhaupt ist die Passionsgeschichte mit Menschen bevölkert, die allesamt ihre Probleme, ihre Sünden und Unzulänglichkeiten haben. Das gilt besonders für Maria. Fasziniert Sie das auch? 

Jesus hat es deutlich gemacht: Er ist nicht gekommen, um mit netten oder unkomplizierten Menschen zusammen zu sein. Er traf auf Randfiguren, die anfällig waren für Selbstmord, Gewalt und Kampf. Maria und Jesus lebten zusammen. Die Leute fragten: "Weißt du nicht, dass sie eine Prostituierte ist?" Jesus machte es aber sehr deutlich, dass er lieber mit ihr zusammen sein wollte, als mit vielen anderen Menschen.

Das vermittelt Folgendes: Wenn das Leben zusammenbricht, wenn man die größten Fehler gemacht hat, ist das genau die Zeit, in der der seelische Hunger am größten und die Nähe zu Gott real, notwendig und dringend ist. Es wird klar, dass man ohne seinen Glauben nicht auskommt und einen Schritt ins Ungewisse wagen muss - mit ganzem Herzen und Gefühl.

Diese Frau verkörpert diese Verzweiflung, diesen Mut und diese reine Liebestat. Wenn Jesus verhaftet wird, flüchten seine Jünger - aber die Frauen bleiben bei ihm. Am Morgen der Auferstehung sind es die Frauen, die als erste die Engel sehen und von der Auferstehung berichten. In der biblischen Geschichte spielen die Frauen eine besondere Rolle. Nur: Was sie zu sagen haben, erfährt man nicht. Wir haben das geändert!

Handelt es sich hier um eine Gegenüberstellung von der institutionalisierten Religion - verkörpert durch die Jünger - und den anderen Menschen, die, wie Sie sagen, absolutes Vertrauen ins Göttliche haben?

Zu Bachs Zeiten waren gewisse Konventionen in der Erzählung notwendig, die ich weggelassen habe. Heute gibt es Bibelhistoriker, die plausibel darlegen, dass damals, als Rom christlich wurde, Gründe erfunden wurden, warum die Römer Jesus nicht umgebracht hätten. Man gab den Juden die Schuld und stellte den römischen Statthalter Pontius Pilatus als integeren Menschen dar. All das habe ich aus der Geschichte herausgestrichen. Hier geht es weder um Schuldzuweisung noch werden Denkvorgaben gemacht.

Sie haben für die Bonner Aufführung wochenlang an den Szenen und der Charakterdarstellung in Verbindung mit der Musik gearbeitet. In früheren Versionen wurde das Werk noch konzertant oder halbszenisch aufgeführt. Entwickelt es sich weiter?

Hochdramatisch: Szene aus der Bonner Inszenierung von "The Gospel According to the Other Mary"Bild: Thilo Beu

Auf der Partitur steht Oratorium. Ich denke aber, dass John die Genrebezeichnung im Sinne der Oratorien Georg Friedrich Händels benutzt hat - und das waren die dramatischsten Werke, die er je geschrieben hat. Für Händel ging es um das Theater im Kopf; dort konnte er seiner Fantasie endlich freien Lauf lassen. Die Musik ist in der Tat hochdramatisch. Ich zögere immer noch, dieses Werk von John Adams als Oper zu bezeichnen. Es gibt keinen geschlossenen Handlungsstrang, keine Liebesgeschichte in der Art von "Carmen". Das zentrale Thema im Werk ist wesentlich größer. Im Theater kann man Licht, Bewegung und Klang einsetzen, um völlig neue Räume zu erschließen und in andere Sphären einzutauchen.

Mussten Sie nach Europa kommen, um das Stück auf diesem szenischen Niveau zu realisieren? Die logistischen und zeitlichen Bedingungen sind in den USA ja ganz andere - oder ist das nur ein Vorurteil meinerseits?

Ich würde alles geben, um dieses Stück so in den Vereinigten Staaten zu inszenieren! Ich wünschte, man könnte dort das zeigen, was die Leute hier in Bonn sehen. Die Inszenierung ist zustande gekommen, nachdem der Direktor der English National Opera die konzertante Version gesehen hatte. Er sagte, das sollte man voll inszenieren. Nun können wir die Inszenierung in Bonn wirklich vertiefen und dem Stück eine Dimension geben, die unter anderen Bedingungen nie möglich gewesen wäre.

Ich bin zudem dankbar dafür, hier in Deutschland daran arbeiten zu dürfen. Das ist einer der wenigen Orte der Welt, wo die Leute nicht völlig durchdrehen. Sie behalten ein seelisches und geistiges Gleichgewicht in einer Zeit, in der viele andere Orte von Wut, reaktionären Kräften und extremen Reaktionen überflutet werden. Es ist eine reine Freude, jeden Morgen in Deutschland aufzuwachen und Leute zu sehen, die ihr Gleichgewicht behalten haben. Die Menschen hier haben auch eine Perspektive und sagen: Wir werden nicht alles preisgeben, an das wir glauben; das, was uns etwas wert ist, werden wir sogar vertiefen. Dies zu erleben, ist für mich ein wunderbarer Moment.

Mit Peter Sellars sprach der DW-Kulturredakteur Rick Fulker.

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