Piraten entern NRW
13. Mai 2012 Was sich hinter den aktuellen Zahlen verbirgt, bedeutet einen enormen Zugewinn für die Piratenpartei allein in den letzten acht Wochen. Noch im März sahen die Vorhersagen für die Partei wesentlich schlechter aus. Bei der letzten Landtagswahl in NRW erreichten die Piraten nicht einmal zwei Prozent.
Die Aufholjagd begründen Parteienforscher wie Jürgen Falter mit den Erfolgen der Piratenpartei in Berlin, im Saarland und in Schleswig-Holstein. Überall dort zogen die Piraten mit im Schnitt acht Prozent der Wählerstimmen erstmals in die Abgeordnetenhäuser ein. Seitdem betonen die Vertreter der etablierten Parteien bis hin zur Bundeskanzlerin Merkel in Berlin: "Wir nehmen die Piraten sehr ernst".Politik aus Notwehr
"Ich war im Herzen schon immer Pirat", sagt der Spitzenkandidat der Piraten in Nordrhein-Westfalen, Joachim Paul. Der 54-jährige promovierte Biophysiker und Medienpädagoge soll die Piratenpartei im größten Bundesland leiten. Paul wurde durch seinen Sohn auf die Piratenpartei aufmerksam. 2009 trat er den Piraten als Mitglied bei. Zuvor hatte der politisch Interessierte mit den Grünen sympathisiert. Aber die Technikfeindlichkeit der Grünen hatte ihn von einem weiteren Engagement abgehalten.
"Der neue Politikstil der Piraten, bei denen immer alle Bürger in Entscheidungen einbezogen werden sollen, hat am besten zu meinem Demokratieverständnis gepasst", begründet Joachim Paul seinen Parteieintritt. Er spricht sogar von einer Art persönlicher Notwehr, weil er die Demokratie bedroht sieht. Die übrigen Parteien würden nämlich die Demokratie in Deutschland als ein abgeschlossenes, feststehendes System verstehen. "Wir wollen dieses System weiter entwickeln", sagt Joachim Paul. Nach seiner Meinung und der seiner Mitstreiter würden die Bürger bei politischen Entscheidungen zu wenig eingebunden. Das habe in der Bevölkerung zu einer Politikverdrossenheit und einer stetig steigenden Zahl von Nichtwählern geführt. Bewunderung und Skepsis
Für den Vorsatz, politische Entscheidungen transparenter zu machen, erhalten die Piraten auch in Nordrhein-Westfalen von vielen Bürgern Zustimmung. "Endlich kommt mal frischer Wind in die Parteienlandschaft", freut sich eine 45-jährige Frau, die am gläsernen Informationswagen der Piraten am Düsseldorfer Rheinufer stehen geblieben ist. Bei ihr und weiteren Passanten entsteht im Gespräch mit Vertretern der Piraten eine Art Aufbruchstimmung. "So ein Gefühl hatten wir zuletzt bei Willy Brandt", meint ein Rentner, der die Partei im Augenblick aber für noch nicht wählbar hält. "Die müssen sich jetzt erst mal bewähren". Er bestätigt jedenfalls mit vielen älteren Interessierten, dass das Bild von den Piraten als Partei, nur für junge Menschen interessant zu sein, nicht mehr zutrifft.
Auch der über 50-jährige Spitzenkandidat der Piraten im bevölkerungsreichsten Bundesland, Joachim Paul, erzählt: "Es kommen immer mehr ältere Menschen aus allen Bevölkerungsschichten zu uns". Paul selbst wurde auf dem Parteitag der Piraten einem jüngeren Kandidaten für den Vorsitz vorgezogen und gilt innerhalb des Landesverbandes als eine väterliche Leitfigur. Die Partei der einstigen Computer-Nerds beginnt am stärksten in Nordrhein-Westfalen ihr Gesicht zu verändern. Viele ältere Parteimitglieder würden mit ihren Erfahrungen auch das oft kritisierte mangelnde Expertentum der Partei bereichern. Ausgerechnet viele jüngere Menschen, die am Informationsstand der Partei vorbeikommen, äußern sich in den letzten Tagen vor der Wahl aber überraschend skeptisch. "Eine reine Protestpartei ist mir zu wenig", heißt es von einem jungen Mann Mitte 20. "Ich weiß immer noch nicht, wofür die Piraten genau stehen und was die wirklich wollen", meint eine 19-jährige Frau.Ziele der Piraten vom Sparzwang bedroht
Inzwischen hat die Piratenpartei für Nordrhein-Westfalen auch ein umfangreiches Programm. Den Schwerpunkt wollen Spitzenkandidat Paul und der Landesvorsitzende der Piraten, Michele Marsching, auf den Bereich "Bildung" legen. Die Ausgaben dafür sollen deutlich steigen. Die Schulklassen schrumpfen nach den Plänen der Piraten um die Hälfte auf nur noch 15 Schüler. Auch für Nordrhein-Westfalen soll das bundesweite Ziel gelten, öffentliche Verkehrsmittel wie Busse und Regionalbahnen kostenlos anzubieten und ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen. Zählt man diese Ansprüche zusammen, wären Milliardeninvestitionen notwendig. Allerdings fehlt das Geld dafür im Landeshaushalt.
An zu hohen Investitionsplänen und damit an einer zu hohen Verschuldung war erst die letzte Landesregierung von SPD und Grünen gescheitert. Um die Pläne durchzusetzen, wäre noch vor Wochen die Zustimmung weiterer Parteien notwendig gewesen. Die Liberalen verweigerten jedoch ihre Zustimmung. Die Regierung gab auf und es wurden Neuwahlen angesetzt, die am 13.05.2012 stattfgefunden haben. Den politischen Plänen der Piraten werden vor diesem Hintergrund wenig Chancen eingeräumt.
Gute Chancen bei der Bundestagswahl 2013
Die Piraten selbst sehen sich deshalb realistisch erst einmal auf der Oppositionsbank. "Eine spätere Regierungsverantwortung schließen wir nicht aus", erklärt Joachim Paul. "Aber erst mal wollen wir den politischen Betrieb näher erleben und viel lernen". Der CDU werden zwar Anknüpfungspunkte zu den Piraten nachgesagt. Als Koalitionspartner aber dürften die Piraten kaum infrage kommen, heißt es aus der Fraktion. Mit dem Einzug in eines der wichtigsten Länderparlamente haben die Piraten auf jeden Fall ihre Chancen auf einen Einzug in den Bundestag weiter erhöht.