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Poker um Gas-Liefermengen geht weiter

16. Juni 2022

Während der Bundeskanzler mit anderen EU-Regierungschefs in der Ukraine ist, drosselt Gazprom seine Gas-Lieferungen weiter. Wirtschaftsminister Habeck ruft zum Energiesparen auf. Die Sorge vor einem Lieferstopp wächst.

Deutschland | Gasspeicher
Die Gasspeicher sollen weiter befüllt werdenBild: Axel Heimken/dpa/picture alliance

Der russische Energieriese Gazprom hat wie angekündigt in der Nacht zum Donnerstag seine Gaslieferungen nach Deutschland durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 weiter reduziert - und Russland schließt ein komplettes Runterfahren der wichtigsten Versorgungsleitung für Deutschland nicht aus. Der russische EU-Botschafter betonte beim Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg, wegen der Probleme bei der Reparatur von Turbinen in Kanada könne die Leitung komplett stillgelegt werden. "Ich denke, das wäre eine Katastrophe für Deutschland", sagte er laut der russischen Zeitung "Kommersant".

Die Gasflüsse aus der Nord Stream 1 seien gestern ab 23 Uhr auf rund 40 Prozent der Maximalleistung gedrosselt worden, heißt es im Lagebericht zur Gasversorgung der Bundesnetzagentur.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck nannte die Situation ernst. Seinem Ministerium zufolge ist die sichere Versorgung mit Gas aber weiter gewährleistet. "Aktuell können die Mengen am Markt beschafft werden, wenn auch zu hohen Preisen. Es wird aktuell noch eingespeichert", teilte eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums auf Anfrage der Nachrichtenagentur dpa mit.

Angesichts der stark reduzierten Liefermengen durch die Nord Stream 1-Pipeline rief Wirtschaftsminister Habeck erneut zum Energiesparen auf. In einem über Twitter verbreiteten Video dankte der Grünen-Politiker der Bevölkerung und den Unternehmen für ihre bisherigen Bemühungen. Habeck appellierte mit Blick auf das Energiesparen zugleich: "Es ist jetzt der Zeitpunkt, das zu tun. Jede Kilowattstunde hilft in dieser Situation."

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ruft zum Energie-Sparen auf Bild: Tobias Schwarz/AFP

Bundesnetzagentur mit Sorge vor Heizsaison

Die Bundesnetzagentur erklärte, das Vorgehen Moskaus sei "technisch nicht zu begründen". Dass Gazprom seine Lieferungen durch Nord Stream 1 nun auf etwa 40 Prozent senkt, ist aus Sicht des Präsidenten der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, ein Warnsignal. "Russland schürt damit leider Verunsicherung und treibt die Gaspreise hoch", sagte er der "Rheinischen Post".

Wenn Gazprom über Wochen nur 40 Prozent durch Nord Stream 1 liefere, bekomme Deutschland ein Problem, sagte Müller: "Das würde unsere Situation erheblich verschlechtern. Über den Sommer könnten wir das vielleicht aushalten, denn die Heizsaison ist ja vorbei. Allerdings müssen wir jetzt zwingend die Speicher füllen, um den Winter zu überstehen - auch mit russischem Gas."

Der Chef der Bundesnetzagentur schlug eine Absenkung der Mindesttemperatur in Wohnungen vor. "Im Mietrecht gibt es Vorgaben, wonach der Vermieter die Heizungsanlage während der Heizperiode so einstellen muss, dass eine Mindesttemperatur zwischen 20 und 22 Grad Celsius erreicht wird. Der Staat könnte die Heiz-Vorgaben für Vermieter zeitweise senken. Darüber diskutieren wir mit der Politik", sagte Klaus Müller im Gespräch mit der "Rheinischen Post". Der Präsident des Deutschen Mieterbundes (DMB), Lukas Siebenkotten, lehnte den Vorschlag Müllers ab.

Unter Aufsicht der Bundesnetzagentur: Der größte Erdgasspeicher Westeuropas in Rehden Bild: Hauke-Christian Dittrich/dpa/picture alliance

Gazprom reduzierte auch die Gaslieferungen nach Italien deutlich. Das russische Unternehmen habe eine Drosselung der Erdgasmenge um "rund 15 Prozent" mitgeteilt, sagte ein Sprecher des teilstaatlichen italienischen Energieversorgers Eni der Nachrichtenagentur AFP. Gazprom habe Eni zunächst keine Gründe genannt.

EU warnt vor Rezession bei Gas-Lieferstopp

EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni hat davor gewarnt, dass die europäische Wirtschaft bei einem russischen Gaslieferstopp schrumpfen würde. Ein Lieferstopp würde mindestens in diesem Jahr zu einem Rückgang der Wirtschaftsleistung führen, sagte Gentiloni am Rande eines Treffens der Euro-Finanzminister am Donnerstag. "Aber das ist noch nicht der Fall", sagte der italienische Politiker. Bisher gebe es nur Signale an manche EU-Länder von Russland, noch keine Entscheidung. 

Noch gibt es keine aktuellen Versorgungsprobleme, aber die Nervosität wegen weiter steigender Preise und möglicher Probleme bei der geplanten Befüllung der deutschen Gasspeicher bis zur Heizperiode im Winter wächst.

Vor dem Ukraine-Krieg bezog Deutschland rund 55 Prozent seines Gases aus Russland, inzwischen sind es noch etwa 35 Prozent. Der Rest kommt bisher vor allem aus den Niederlanden und Norwegen, in geringerem Maße aus Belgien und anderen Quellen. Etwa fünf Prozent des Bedarfs werden aus einheimischer Förderung gedeckt. Der Verbrauch liegt aktuell unter den Werten des Vorjahres, aber über dem Zehn-Jahres-Mittelwert.

Russlands Macht über Pipelines und Gasspeicher

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Wie ist die Lage bei den Gasspeichern?

Nach Branchenangaben gibt es in Deutschland 47 unterirdische Gasspeicher an 33 Standorten, allerdings mit stark unterschiedlicher Größe. Die Gesamtkapazität beträgt 24,6 Milliarden Kubikmeter Erdgas, was 230 Terawattstunden (Twh) entspricht. Davon werden etwa 20 Prozent von der Astora GmbH kontrolliert, die zu der aktuell unter deutscher Treuhandverwaltung stehenden Gazprom Germania gehört, einer Tochter des russischen Gazprom-Konzerns.

Der Gesamtfüllstand wurde von der Bundesnetzagentur am Mittwoch mit 55,6 Prozent angegeben, deutlich mehr als zu Kriegsbeginn im Februar. Der Tiefststand betrug im März weniger als 25 Prozent. Der größte Speicher Rheden von Astora mit einer Kapazität von 43,7 Twh ist aktuell aber nur zu 8,1 Prozent gefüllt. Über weitere größere Speicherkapazitäten verfügen unter anderem die VNG Gasspeicher GmbH mit dem Mehrheitseigentümer EnBW sowie Uniper, das mehrheitlich zum finnischen Fortum-Konzern gehört.

Das im März beschlossene neue Energiespeichergesetz schreibt vor, dass die Speicher insgesamt in diesem Jahr zum 1. Oktober zu 80 Prozent und zum 1. November zu 90 Prozent befüllt sein müssen. Tatsächlich stieg der Füllstand zuletzt kontinuierlich an, aktuell jedoch deutlich verlangsamt.

Wie kommt das russische Gas nach Deutschland?

Die weitaus größte Menge fließt durch die Pipeline Nord Stream 1 nach Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern. Noch bis Anfang Juni waren dies laut Bundesnetzagentur täglich knapp 1800 Gigawattstunden (Gwh). Am Dienstag hatte Gazprom mitgeteilt, die Liefermenge werde um rund 40 Prozent verringert, am Mittwoch hieß es dann, die Reduktion werde sogar 60 Prozent ausmachen.

Wartung der Nord Stream 1-Pipeline in Lubmin im August 2018 Bild: Nord Stream AG/Russian Look/ZUMA Wire/picture alliance

Daneben erhält Deutschland noch täglich rund 600 Gwh Erdgas über das südosteuropäische Transgas-Pipeline-System mit Übergabepunkt im bayerischen Waidhaus. Eine Zufuhrleitung aus Russland, die Sojus-Pipeline, war allerdings wegen der Kampfhandlungen im Mai von der Ukraine unterbrochen worden. Seit Ende April wird auch die über Polen führende Jamal-Pipeline nach Brandenburg nicht mehr von Russland befüllt.

Wie soll das russische Gas ersetzt werden?

Eine wichtige Rolle soll der Import von Flüssiggas (LNG) spielen. Aktuell sind vier schwimmende LNG-Terminals vorgesehen, von denen je eines in Wilhelmshaven und in Brunsbüttel bis Jahresende in Betrieb gehen sollen, die anderen beiden im Frühjahr 2023. Als Standorte im Gespräch sind Stade und Hamburg sowie Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern. Dort ist durch Nord Stream bereits viel Gas-Infrastruktur vorhanden. Das flüssig angelieferte Gas könnte dann als Erdgas innerhalb Deutschlands und Europas weitergeleitet werden.

Zudem sind für die kommenden Jahre mindestens zwei stationäre LNG-Terminals geplant. Als Standorte werden Stade und Brunsbüttel sowie Wilhelmshaven genannt. Sie sollen später dann auch für Wasserstoff genutzt werden können. Möglich sind auch Importe aus LNG-Terminals anderer EU-Staaten.

Weitere Gasmengen könnten bereits diesen Winter eingespart werden, indem Gaskraftwerke durch in Reserve gehaltene Kohlekraftwerke vorübergehend ersetzt werden. Dies würde allerdings den CO2-Ausstoß erhöhen.

Gazprom sieht keine Lösung für Lieferstörung

Der russische Staatskonzern Gazprom sieht derzeit nach eigenen Angaben keine Lösung für die Lieferstörungen in der Pipeline Nord Stream 1 nach Deutschland. Konzern-Chef Alexej Miller sagte, zur Reparatur der Gas-Kompressoren fehlten wichtige Ersatzteile, die von Kanada wegen der bestehenden Sanktionen gegen Russland nicht geliefert werden könnten. Der Energietechnikkonzern Siemens Energy hatte daraufhin mitgeteilt, dass eine in Kanada überholte Gasturbine aufgrund der Russland-Sanktionen derzeit nicht aus Montréal zurückgeliefert werden könne.

tko/haz (rtr, dpa. afp)

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