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Politik

Polen: Auf Konfrontationskurs mit der EU

Magdalena Gwozdz-Pallokat
14. Juli 2021

EU-Regeln und Urteile werden von der PiS-Regierung immer wieder ausgebremst. Jetzt wird zu einem weiteren Urteil des Luxemburger EuGH zur "Justizreform" das polnische Verfassungsgericht in Stellung gebracht.

Polen Verfassungsgericht Warschau
Das Verfassungsgericht in WarschauBild: Rafal Guz/PAP/dpa/picture-alliance

Mit EU-Flaggen versammelten sich am Dienstagmorgen vor dem Verfassungsgericht in Warschau Menschen, die einen Austritt Polens aus der EU fürchten. Sie erkennen einen weiteren Schritt im Konfrontationskurs ihres Landes mit der EU.

Im Mittelpunkt steht die Frage: Wie lassen sich nationale Regeln mit EU-Recht vereinbaren, und welches Recht ist letztendlich dem anderen überlegen? Nach fünfstündigen Anhörungen unterbrach am Dienstag das polnische Verfassungsgericht die Verhandlungen, die in den vergangenen Wochen schon mehrmals vertagt worden waren. Nun werden sie am 3.08.2021 fortgesetzt. Beobachter sehen in diesem erneuten Aufschub den Versuch der PiS-Regierung, dem auf umstrittene Weise umgebauten Verfassungsgericht ein Schlusswort im Streit mit Brüssel zuzuweisen. Denn nach wie vor sind eine Reihe von Verfahren gegen die polnische "Justizreform" vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig. Immer wieder haben die Richter im fernen Luxemburg gegen die PiS-Entscheidungen geurteilt.

Solidaritätskundgebung für polnische Richter in Warschau, 11.01.2020Bild: Getty Images/AFP/J. Skarzynski

Schon im Vorfeld des Zusammenkommens des Verfassungsgerichts am Dienstag hatten Rechtswissenschaftler Alarm geschlagen. Falls das Gericht dem polnischen Recht gegenüber EU-Recht grundsätzlich Vorrang einräumen sollte, würde dies den Anfang eines Polexits bedeuten. Piotr Bogdanowicz, Professor an der Universität Warschau, argumentierte beim Privatsender TVN24, es gebe in Wahrheit gar keinen Konflikt. Premierminister Mateusz Morawiecki, der den Antrag zur Prüfung zentraler Paragraphen der EU-Verträge gestellt hatte, versuche den Anschein eines Widerspruchs zwischen der polnischen Verfassung und dem Recht der Europäischen Union im Bereich der Unabhängigkeit der Justiz und der Richter zu erwecken. Aber eigentlich gehe es darum, die EU und den EuGH auszubremsen, so Bogdanowicz.

Ende März hatte der polnische Premier dem Gericht die Frage gestellt, ob die nationale Verfassung Vorrang vor EU-Recht habe. Als Anlass diente ein EuGH-Entscheid gegen die umstrittenen Justizreformen der rechtskonservativen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die seit 2015 in Polen an der Macht ist. Drei Monate darauf forderte die EU-Kommission die Warschauer Regierung auf, den Antrag an das Verfassungsgericht zurückzunehmen und den Vorrang von europäischem vor nationalem Recht anzuerkennen. Die polnische Seite lehnte jedoch ab.

EU-Gegnerin in Verfassungsrichter-Robe

Während sich das Verfassungsgericht in dieser Frage auf Donnerstag vertagte, kommt es am Mittwoch (14.7.21) in einem verwandten Fall zusammen. Anlass hier: Eine einstweilige Anordnung des EuGH, nach der eine umstrittene "Disziplinarkammer" ihre Tätigkeit einstellen muss. Die Kammer selbst, die Richter oder Anwälte bestrafen kann, stellte die Frage, ob sie sich fügen müsse - und setzte ihre Tätigkeit einstweilen fort.

Für Richterin Krystyna Pawlowicz ist die blaue Fahne mit zwölf Sternen ein "EU-Lappen"Bild: picture-alliance/dpa/R. Zawistowski

Dieses Verfahren wurde ebenfalls mehrfach vertagt. Auch der Vorsitz der Kammer hat sich verändert. Anfangs hatte ihn Richterin Krystyna Pawlowicz inne, eine ehemalige PiS-Abgeordnete, die für ihre schrille EU-Kritik bekannt ist. 2013 erklärte sie das blaue Sternenbanner zu einem "EU-Lappen", der gemeinsam mit der Nationalflagge ausgehängt polnische Symbole beleidige. Damals bekannte sie auch, sie warte darauf und bete dafür, dass die EU auseinanderfalle. Bei anderer Gelegenheit fand sie, die EU schaffe die Möglichkeit, "das nächste Deutsche Reich wieder aufzubauen". Juristisch stellte sie einen Dualismus der Rechtssysteme fest. Die polnische Verfassung werde entwertet, wenn EU-Gesetze Vorrang haben.

Bartlomiej Przymusinski, Pressesprecher der Vereinigung der polnischen Richter "Iustitia", erinnerte kürzlich in einem Fernsehinterview daran, dass es die polnische Verfassung bereits gegeben habe, als die damalige polnische Regierung 2004 den EU-Beitrittsvertrag unterzeichnet und das polnische Parlament ihn ratifiziert hatten. Er sehe keinen Widerspruch zwischen dem Beitrittsvertrag und dem "polnischen Grundgesetz". "Wenn es so wäre, würde dies bedeuten, dass die höchsten Behörden wie Regierung und Parlament die Verfassung durch den Beitritt zur Europäischen Union gebrochen hätten”, so der Richter. Auch im Verfahren um die Disziplinarkammer sieht er das Potential, Polens EU-Mitgliedschaft zu "sprengen". Przymusinski nach wäre es ein weiterer Schritt in Richtung einer Kluft: "Die Frage ist, ob wir mit diesem Schritt noch etwas Boden unter den Füßen haben oder ob wir bereits in diese Kluft fallen".

Immer mehr Nachfragen zur Unabhängigkeit der Justiz

Polen steht seit längerer Zeit im Konflikt mit der Europäischen Union. Kern des Streits: Die "Justizreform", die konsequent und ohne Rücksichtnahme auf Empfehlungen vieler nationaler und internationaler Expertengremien von der regierenden PiS-Partei vorangetrieben wird. Dabei waren Urteile internationaler Spruchkammern sowie nationaler Gerichte in "alter" Zusammensetzung missachtet worden. So hatten mehrere Kammern des Obersten Gerichts in einer gemeinsamen Entscheidung der "Disziplinarkammer" attestiert, kein Gericht nach Recht und Gesetz zu sein. Und das "alte" Verfassungsgericht verwarf die eigene Umbesetzung zu Beginn der PiS-Regierung als rechtswidrig - erfolglos.

Zuletzt hatte auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg moniert, das polnische Verfassungsgericht sei zu sehr von der Regierung gesteuert und unrechtmäßig besetzt. Zwei Richtern, die gegen ihre Degradierung im Rahmen der "Justizreform" geklagt hatten, sprach das Gericht Entschädigung zu.

PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski im polnischen Parlament, 12.11.2019Bild: W. Radwanski/AFP/Getty Images

Die Einschätzungen des EGMR entfalteten "keinerlei Rechtswirkung", befand dazu die Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Julia Przyłebska, Ehefrau des polnischen Botschafters in Berlin und Vertraute von PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski. Das Gericht habe "außerhalb seiner Zuständigkeit" in die innerpolnischen Befugnisse eingegriffen, Richter zu wählen und zu ernennen. Przyłebska leitet auch selbst das Verfahren um die Vorrangigkeit europäischen Rechts. Den Antrag des Ombudsmanns für Bürgerrechte, bei einem so wichtigen Vorgang das ganze Verfassungsgericht entscheiden zu lassen, lehnte sie ab.

So wird das Verfassungsgericht, selbst erstes Ziel der "Justizreform", zu ihrer zunehmend wichtigen Stütze: Eine komplexe Reform, bei der Kritiker der Regierung vorwerfen, sie übernehme insgesamt die politische Kontrolle über die Richter und gefährde damit die Unabhängigkeit der Justiz, damit also auch die Gewaltenteilung. Die national-konservative polnische Regierung setzt dem entgegen, sie wolle die Gerichte effektiver machen und auch Richter, die schon im sozialistischen Polen Urteile gefällt haben, aus den Reihen ziehen. Doch oft sind die politischen Maßnahmen gegen Richter gerichtet, die zum Zeitpunkt der Wende gerade mal volljährig waren. Dafür übernahm anstelle der EU-Gegnerin Pawlowicz im Verfahren um die "Disziplinarkammer" nun ausgerechnet mit Stanislaw Piotrowicz ein früherer PiS-Politiker den Spruchkammer-Vorsitz, der zur Zeit des Kriegsrechts im sozialistischen Polen der achtziger Jahre Staatsanwalt war.

Düstere Prognosen

Angesichts der beiden Verfahren erklärte Ex-Premier Leszek Miller, dessen Regierung den EU-Beitritt Polens auf den Weg gebracht hatte, er sehe schwarz für Polen. "Wir werden mit suspendierten Haushaltsmitteln für die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit und millionenschweren Geldstrafen enden", prophezeite er im polnischen Fernsehen.

Am Donnerstag entscheidet der EuGH endgültig über die Zulässigkeit der Disziplinarkammer. Der Termin ist kurz vor dem neuerlichen Anlauf des Warschauer Verfassungsgerichts terminiert, das die Nachrangigkeit von EU-Regeln feststellen könnte. 

Magdalena Gwozdz-Pallokat Korrespondentin DW Polski, HA Programs for Europe, Warschau, Polen