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Politik

Polen: Ausnahmezustand an der Grenze zu Belarus

Magdalena Gwozdz-Pallokat
2. September 2021

Seit mehr als drei Wochen stecken 32 Menschen aus Afghanistan an der polnisch-belarussischen Grenze fest. Nun hat die polnische Regierung im Grenzgebiet den Ausnahmezustand ausgerufen.

Afghanische Flüchtlinge an der polnisch-weißrussischen Grenze gestrandet
Zelte gestrandeter afghanischer Flüchtlinge an der polnisch-belarussischen GrenzeBild: Irina Polina/TASS/dpa/picture alliance/dpa

Die Menschen schauen von Weitem in die Kamera, zwischen ihnen und der Fotografin stehen schwerbewaffnete Soldaten. Manche heben die Hand, um zu winken. Weder lächeln sie, noch blicken sie besonders ernst. Dennoch wirken sie merkwürdig verzweifelt.

Es sind seltene Fotos von den Menschen aus Afghanistan, die seit drei Wochen an der polnisch-belarussischen Grenze feststecken. Die schwarz-weißen Aufnahmen hat Anna Maria Biniecka von Testigo Documentary gemacht, einem polnischen Kollektiv von Multimedia-Journalisten, das unter anderem Materialien zu politischen oder sozialen Themen veröffentlicht, die von Mainstream-Medien wenig oder gar nicht beachtet werden.

Zu sehen sind die Fotos unter anderem auf der Facebook-Seite der polnischen Stiftung "Errettung" (Ocalenie), deren Aktivisten seit Tagen vor Ort sind und kritisieren, dass die polnischen Behörden teilnahmslos einem Drama von 32 afghanischen Männern und Frauen zusähen. "Sie sehen Mohammad zu, einem Schneider, der versprochen hat, für alle Helfer in unserem Lager schöne Mäntel zu nähen, sobald er aus der Hölle herauskommt. Sayyed, einem Koch, der sein bestes Gericht Qabuli (Reis mit Karotten und Rosinen) zubereiten möchte. Abdul, einem Elektroingenieur. Mohsen, einem Schmied. Mohammad, einem Teppichweber", schreiben die Aktivisten in sozialen Medien. Durch ein Megafon und mit Hilfe einer Übersetzerin gelang es ihnen, kurze Gespräche mit den Flüchtlingen zu führen und anhand von Gesten zu erfahren, welchen Berufen sie nachgingen, bevor sie ihre Heimat verlassen mussten.

Kein Zugang für Journalisten

Es sind rare Aufnahmen und seltene Informationen, denn seit Tagen beklagen Vertreter von Nicht-Regierungsorganisationen und Ärzte, keinen Zugang zu den Menschen an der Grenze zu haben. Nach der Einführung des Ausnahmezustands dürfte dies noch schwerer werden, denn laut Verordnung soll der Ausnahmezustand 30 Tage lang gelten und 183 Orte im Grenzstreifen betreffen. Verboten sind dort künftig sämtliche Versammlungen, das Fotografieren und Filmen von "Grenzobjekten", aber auch von Soldaten, Polizisten oder Grenzschützern. Und: Journalisten haben keinen Zugang zu den betroffenen Gebieten mehr.

Polnische Grenzer verlegen Stacheldraht an der Grenze zu Belarus (31.08.2021)Bild: Dominika Zarzycka/NurPhoto/picture alliance

Prinzipiell könnte das polnische Parlament die Verordnung in den kommenden Tagen für nichtig erklären, doch die erforderliche Mehrheit dazu ist nicht in Sicht. Der ehemalige polnische Innenminister Marek Biernacki erklärte, er halte die Einführung eines Ausnahmezustands für "absurd". "Man führt ihn normalerweise in einer kritischen Situation ein, in der die Staatsorgane nicht mehr auf die übliche Art und auf der Grundlage bestehenden Rechts agieren können", sagte er in einem Fernsehinterview. Ihm zufolge sei eine solche Situation nicht gegeben. Und auch die aktuelle Opposition stellt die Frage, ob die Verhängung des Ausnahmezustands wegen 32 Flüchtlingen angemessen ist.

"Auf jedes Szenario vorbereitet"

Dass sie es ist, betonte der amtierende polnische Innenminister Mariusz Kaminski am Donnerstag (02.09.2021) umgehend nach der Bekanntgabe der Verordnung, als er Details erläuterte. Er äußerte die Hoffnung, der Ausnahmezustand werde dazu führen, dass sich die Situation an der Grenze stabilisiere: "Dieses Problem betrifft nicht 30 Menschen, die sich auf der anderen Grenzseite aufhalten. Dies ist die Spitze des Eisbergs, den uns Lukaschenko spendieren möchte. Wir lassen es nicht zu, dass Polen zu einer weiteren Route für illegale Masseneinwanderung in die Europäische Union wird." Die Regierung werde auch nicht zulassen, dass die Sicherheit der Bürger gefährdet werde. Als zusätzlichen Grund für die Einführung des Ausnahmezustands nannte er anstehende Militärmanöver hinter der östlichen Grenze Polens. "Ein Teil dieser wichtigen Manöver des russischen Militärs wird in Belarus stattfinden, direkt an unserer Grenze", erklärte Kaminski und fügte hinzu: "Wir müssen auf jedes Szenario vorbereitet sein, auf jede Provokation an der Grenze."

Der polnische Innenminister Mariusz KaminskiBild: Wojciech Olkusnik/PAP/picture alliance

"Sie lassen mich nicht durch"

Die Einführung des Ausnahmezustands bedeutet für Aktivisten und Helfer, dass sie ihre Zelte abbauen und das Gebiet verlassen müssen. Die Ärztin und Aktivistin Paulina Bownik war bisher beinahe jeden Tag vor Ort. Seit Jahren versucht sie, Flüchtlingen zu helfen. Als die DW vor einigen Tagen mit ihr sprach, konnte sie sich zumindest auf ein paar Meter den Flüchtlingen nähern, später dann nur noch auf größere Distanz. "Die Menschen, die mich abweisen, wollen sich nicht einmal legitimieren", berichtet Bownik der DW. "Vorgestern ist ein Mensch ohnmächtig geworden, wir sahen, wie er auf dem Boden lag. Andere Flüchtlinge versammelten sich um ihn und baten um einen Arzt. Man konnte erkennen, dass die polnischen und belarussischen Soldaten nicht wussten, was sie tun sollen. Die Polizei, genauer gesagt, ihre sogenannten Krisenpräventionskräfte, ließen mich jedoch nicht durch."

Die Aktivistin und Ärztin Paulina Bownik an der polnisch-belarussischen GrenzeBild: Privat

Die Polizisten erklärten der Ärztin, sie seien zur Unterstützung des Grenzschutzes da und ergriffen keine "eigenen" Maßnahmen, daher müssten sie sich auch nicht ausweisen. "Die Flüchtlinge signalisieren deutlich, dass ihnen kalt ist, dass jemand in Ohnmacht fällt, und wir können nicht helfen, weil die Polizei uns den Weg zu diesen Menschen versperrt. Das ist rechtswidrig und passiert auf polnischem Boden." Wobei die Migranten formal offenbar noch im Niemandsland oder auf belarussischem Boden campieren.

Organisierte Migration

Mehr als drei Wochen steckt die Gruppe nun an der Grenze fest. Die Regierung in Warschau beschuldigt den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko, in organisierter Form Flüchtlinge aus Krisenregionen an die EU-Außengrenze zu bringen. Bereits Ende Mai hatte Lukaschenko angekündigt, sein Land werde Migranten nicht mehr an der Weiterreise in die EU hindern - eine Reaktion auf verschärfte Sanktionen des Westens gegen Belarus. Der Minsker Machthaber wolle wohl ein neues 2015 provozieren, meinte der polnische Innenminister Kaminski mit Blick auf die Flüchtlingskrise vor sechs Jahren.

Die Aktivistin und Ärztin Paulina Bownik spricht davon, dass Flüchtlinge derzeit täglich die belarussisch-polnische Grenze überqueren würden. Nach offiziellen Angaben des Grenzschutzes gab es im August rund 3500 illegale Einreiseversuche aus Belarus. In rund 2500 Fällen seien die Menschen daran gehindert worden. Bownik schätzt die echten Zahlen samt Dunkelziffer sogar drei Mal so hoch ein. "Es ist wichtig, diesen Menschen zu helfen", sagt sie. "Auch nach Ausrufung des Ausnahmezustands wird es Menschen geben, die es versuchen werden."

Paulina Bownik und Aktivisten der Stiftung "Errettung" an der Grenze zu BelarusBild: Monika Sieradzka/DW

Hält Polen Genfer Flüchtlingskonvention ein?

Rafal Kostrzynski von der polnischen Vertretung des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sagt der DW, in Fällen wie derzeit an der polnisch-belarussischen Grenze müssten die humanitären Kosten minimalisiert werden. "Jeder Staat hat das Recht darauf, seine Grenzen zu schützen, aber die Grenzen sollten durchlässig sein für Menschen, die den Flüchtlingsstatus beantragen wollen und die sehr wahrscheinlich den internationalen Schutz benötigen", so Kostrzynski. Der Grenzschutz lehne aber die Annahme der Anträge ab, ganz gleich, welche Gründe vorgebracht würden. "Internationales wie polnisches Recht lassen keinen Zweifel daran, dass eine Person, die an der Grenze angelangt ist und Flüchtlingsstatus beantragt, auch dann keine Straftat begeht, wenn sie keine Dokumente bei sich führt und die Grenze an einem dafür nicht vorgesehenen Ort überschreitet", erklärt er. Er verstehe nicht, wieso die Anwendung der entsprechenden Vorschriften ausgesetzt werde, und erinnert daran, dass auch Polen die Genfer Konvention unterzeichnet hat, vor genau 30 Jahren.

Die Leiterin des UN-Flüchtlingshilfswerks in Polen, Christine Goyer, schreibt dazu in der Tageszeitung Rzeczpospolita: "Ich möchte glauben, dass Polen diesen Werten treu bleibt und Flüchtlinge noch mindestens 30 weitere Jahre lang schützen wird."

Magdalena Gwozdz-Pallokat Korrespondentin DW Polski, HA Programs for Europe, Warschau, Polen