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Politik

Protest gegen "Maulkorb"-Gesetz

19. Dezember 2019

Tausende Polen gingen am Mittwoch Abend landesweit auf die Straße, um gegen einen neuen Gesetzesentwurf der regierenden PiS-Partei zu protestieren. Die Demonstranten wollen ein "Maulkorb"-Gesetz für Richter verhindern.

Demonstranten protestieren gegen Justizwechsel in Warschau
Bild: AFP/Radwanski

In einem khakifarbenen Anorak steht Richter Igor Tuleya auf einer Bühne vor dem Warschauer Parlament. Er redet ruhig und frei, sucht nach Worten, will verstanden werden: Der Richter, der normalerweise geschliffen formuliert, ist erkennbar in einer neuen Rolle. Die Robe, Symbol seines Amtes, hat er sich unter den Arm geklemmt, die Hände in den Taschen: Amtsträger, aber auch Mensch wie Du und ich, soll das wohl signalisieren. Tuleya ist umgeben von Richterkollegen, aber auch sympathisierenden Bürgern. "Gut, dass ihr da seid", ruft er der Menge zu. "Es gibt Momente, da sind Worte eigentlich überflüssig."

"Heute die Richter, morgen Du", mit dieser Losung hatten Verbände der Justizberufe, aber auch Menschenrechts- und Oppositionsgruppen zu Protesten aufgerufen. "Wir verteidigen das Recht gemeinsam mit den Bürgern", sagt Tuleya der DW, ein mittlerweile prominenter Richter, der ins Kreuzfeuer rechter Medien und Politiker geriet. Er ist zu einer Symbolfigur des Widerstandes gegen die "Justizreform" der regierenden PiS-Partei (Recht und Gerechtigkeit) geworden. 

So viele wie am Mittwoch folgten schon lange nicht mehr den Aufrufen zur "Verteidigung" der Justiz, die in Polen keinen guten Ruf genießt. Arrogantes Auftreten, heimliche Seilschaften, lange Wartezeiten bis zum Entscheid: Viele haben etwas auszusetzen an ihren Richtern, und obwohl es immer wieder Proteste gab gegen die Justizpolitik der Kaczynski-Partei, schien das Engagement der Reformgegner zu sinken. "Der Rechtsstaat wird in Polen demontiert und nur wenige demonstrieren", bemerkte kürzlich ein ausländischer Journalist. 

Wollen das "Maulkorb"-Gesetz der PiS verhindern: Demonstranten vor dem Warschauer Parlamentsgebäude Bild: picture-alliance/AP Photo/C. Sokolowski

Die Verfassungsväter schrieben, wohl auch wegen des Missbrauchs des Rechtsgedankens unter den Kommunisten, der polnischen Justiz eine besonders hohe Autonomie zu. Richter wählten Richter, unter - bis zur "Reform" der PiS - weitgehend geringer Beteiligung der Politik. Doch nun hat die PiS einen weiteren Gesetzentwurf vorgelegt, der nicht "nur" wie bisher in die Besetzung der Gerichte eingreift, sondern in die Inhalte richterlicher Tätigkeit selbst. 

Disziplinierung der Richter 

Eine Woche ist es her, seitdem der Entwurf publik wurde, der von Kritikern als "repressiv" bezeichnet wird. Offiziell geht es darum, Richter zu disziplinieren, die sich dem Gesetz, sprich, der Reform widersetzen. Und das tun polnische Richter inzwischen nicht nur verbal, sondern auch qua Amt. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte betont, dass nationale Regeln übergangen werden dürfen, wenn sie demokratischen Grundregeln zuwiderlaufen. Anfang des Monats urteilte das Oberste Gericht Polens, das wesentliche Teile der Reform gegen diese Grundregeln verstoßen: Die reformierte Art und Weise der Richterberufung genauso wie eine neue "Disziplinarkammer", die ebenfalls Richter degradieren oder rauswerfen kann. 

Auf genau diese - juristische - Demontage der Reform zielt der Gesetzentwurf. Richter sollen bestraft und notfalls aus dem Amt geworfen werden können, wenn sie Gesetze infrage stellen; wenn sie "feindselig" gegenüber Staatsorganen auftreten, oder schlicht, wenn sie "anderen Richtern" Legitimität absprechen. 

Die Regierung beteuert, Chaos im Rechtswesen verhindern und Richter stoppen zu wollen, die sich auf unzulässige Weise in die Politik einmischen. Ähnliche Regelungen gebe es auch in Deutschland oder Frankreich. "Wir weichen nicht zurück", erklärte Justizstaatssekretär Michal Wojcik noch während der Proteste im Sender Polsat. Man könne "Anarchie" nicht zulassen. 

Demonstratives Bekenntnis zur EU und deren juristischen Standards Bild: DW/M. Gwozdz-Pallokat

Nicht die Regierung, sondern die Reformgegner gefährdeten Recht und Ordnung im Land. Eine auch auf Deutsch veröffentlichte Erklärung liest sich fast so, als kämpfe niemand mutiger für den Rechtsstaat als die Regierung: "Der Gesetzesentwurf schränkt die Unabhängigkeit der Richter, die ein wichtiges Element eines demokratischen Rechtsstaats sind, in keiner Weise ein."

Die Rechtsanwältin Sylwia Gregorczyk-Abram von der Initiative "Freie Gerichte" widerspricht. Im Gesetzesentwurf gebe es "Gummiparagraphen", die eigentlich alles bedeuten könnten, etwa das Verbot "politischer" Betätigung von Richtern. "Wer soll bestraft werden? Der, der mit einem Schild 'Verfassung' demonstriert, oder jemand anderes?" fragt die Anwältin. Das Gesetz solle Richter einschüchtern und bei der Arbeit behindern, meint sie. 

"Polexit-Gesetz”

Die Passivität vieler Menschen aber spielt der Regierung in die Hände. Schon am frühen Abend meldete der regierungstreue Sender TVP eine "niedrige Beteiligung" an den Protesten. Malgorzata Gersdorf, Vorsitzende des Obersten Gerichts, warnt indes, dass die Folgen bald auch die spüren könnten, die sich jetzt raushalten. "Das ist kein Spaß, sondern das gefährlichste Gesetz für unser Land, mit dem wir es bisher zu tun hatten. Es kann schnell dazu führen, dass wir außerhalb der EU landen", sagte sie dem Sender TVN. Und auch der "einfache Richter" Tuleya hat den Eindruck, Polen sei mental bereits schon außerhalb Europas. "Wenn diese Änderungen in Kraft treten, werden polnische Gerichte nicht mehr europäische Gerichte sein. Sie hindern uns nämlich nicht nur daran, die Verfassung und das nationale Recht anzuwenden, sondern auch EU-Recht", erklärt er. Mikolaj Malecki von der Krakauer Jagiellonen Universität spricht gar von einem Ende der Judikative in Polen. "Wenn wir unser eigenes Recht nicht respektieren, müssen wir damit rechnen, dass wir in der EU nichts mehr zu suchen haben", erklärte er in einem Fernsehinterview.

Es geht um die Bürger 

Grzegorz Antoszewski aus einem kleinen Ort 400 Kilometer von Warschau ist in die Hauptstadt gekommen. Er demonstriert seit Dezember 2015 regelmäßig, trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „konstytucja” (Verfassung) - damals ging es um das Verfassungsgericht, das erste Ziel der "Reformen". PiS hat die Wahlen gewonnen, räumt er ein. Auch bestreite er nicht den Reformbedarf in der Justiz. "Aber das heißt noch lange nicht, dass sie einfach die Verfassung missachten dürfen". 

Trotz Protest: Die polnische Regierung will das umstrittene Gesetz noch vor Weihnachten verabschieden.Bild: AFP/Radwanski

Auf die Frage, wieso dann nicht mehr Menschen auf die Straße gehen, antwortet Anwältin Gregorczyk-Abram, dass man denen erst klar machen müsse, worum es gehe: "Jede Regierung mit autoritären Zügen geht den gleichen Weg: Erst übernimmt sie das Verfassungsgericht und dann die gesamte Justiz. Es geht hier in erster Linie gar nicht so sehr um die Richter, sondern um die Bürger".

Der Gesetzentwurf soll mit einigen Änderungen laut Sejm-Tagesordnung bereits an diesem Donnerstag eingebracht und womöglich noch vor Weihnachten vom Parlament verabschiedet werden. "Ich kann Euch nicht versprechen, dass wir gewinnen, aber ich kann Euch versprechen, dass Richter nicht nur mit schönen Worten über die Verfassung sprechen, sondern auch bis zum Ende alles tun, um sie zu verteidigen", versprach Richter Tuleya während der Demonstration.

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